Interview mit Dr. Udo Witthaus, Schuldezernent der Stadt Bielefeld

Die Stadt Bielefeld hat im Jahr 2010 mit der Etablierung vom Bildungsbüro in Sachen Bildungsmanagement einiges in Gang gebracht. Vor allem im Bereich der Übergänge legte Bielefeld zahlreiche Projekte auf, ebenso im Bereich der kulturellen Bildung. Ein ganz großes Projekt ist auch der „Lernreport Bielefeld“. Erst kürzlich hat sich der Kommunale Lenkungskreis der Bildungsregion dazu entschieden, einen Leitbildprozess für die Bildungsregion auf den Weg zu bringen.
Wie kam es zu der Entscheidung, den Leitbildprozess voranzutreiben?
Das Leitbild reflektiert die Situation, die wir während unserer Bildungskonferenzen festgemacht haben: Wir wollen die Akteure in der Bildungslandschaft stärker aktivieren, sich einzubringen. Unsere Stadtverwaltung benötigt einen Korridor, in dem sich die jeweiligen Fachplanungen stärker miteinander verständigen, sich aufeinander abstimmen und zwar auf der Grundlage eines normativen Leitbildes. Das bedeutet nicht, dass die Fachplanungen diesem Leitbild völlig untergeordnet sein werden. Vielmehr fungiert es als Orientierungshilfe bei bestimmten Verständigungsfragen.
Wir hoffen, dass wir Anfang des Jahres 2017 soweit sind, dieses Leitbild in unserer Bildungskonferenz und in anderen Gremien entsprechend zu kommunizieren und zu etablieren.
Welche Rolle spielt der Lernreport?
Der Lernreport basiert auf einem Set von verabredeten Indikatoren, mit deren Hilfe die kontinuierliche Berichterstattung möglich wird. Der Report ist am UNESCO-Bildungsbegriff ausgerichtet. Das heißt er bezieht formale und nicht-formale Bildung ein und umfasst eine ganze Lebensspanne vom Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung, über die Schule und Berufsausbildung bis hin zur Hochschule und Weiterbildung.
Neben der Datenberichterstattung gibt es jeweils Handlungsempfehlungen, die für Politik und Verwaltung leitend sein sollen. Der Lernreport ist an alle adressiert, die in der Stadt Bielefeld im Bildungsbereich aktiv sind.
Was müssen Akteure im Bereich Bildung leisten, um auf die neueste Entwicklung der Zuwanderung vorbereitet zu sein?
Das ist zunächst eine quantitative Frage. Was die Versorgung der zugewiesenen Neuzugewanderten angeht, haben wir unterschiedliche Zuständigkeiten, die schnell ineinandergreifen müssen. Wir erleben ein hohes Maß an zivilgesellschaftlichem Engagement mit einer neuen Qualität. Es engagieren sich Personengruppen der Stadtgesellschaft, die in früheren Zeiten nicht aktiv waren. Das ist ein Pfund, mit dem man durchaus wuchern kann.
Perspektivisch gesehen müssen wir ein, so nenne ich es, Dreieck aushandeln: Was leisten Staat und Kommune? Was kann die Zivilgesellschaft leisten? Und wo sollte die Eigen- oder Selbstkompetenz der Zugewanderten aktiviert werden? Die Zuwanderer bringen in Teilen bestimmte Kompetenzen mit. Es wird in der Integrationsarbeit notwendig sein, innerhalb dieser Trias eine Rollenklärung vorzunehmen und Aufgaben abzustimmen.
Gibt es bereits Strukturen, auf die die Stadt Bielefeld zurückgreifen kann?
Sehr früh entwickelte der Verwaltungsvorstand ein Konzept für den Umgang mit Flüchtlingen. In dem Konzept definieren wir bestimmte Annahmen und Handlungsfelder von Wohnen über Bildung bis zur Arbeitsmarktintegration.
Es gibt daneben das Projekt „Bielefeld integriert“, einen nach Handlungsfeldern organisierten Kommunikations- und Kooperationszusammenhang, der vom Sozialdezernat auf den Weg gebracht worden ist. Es geht um die Verständigung über konkrete Wohnprojekte, über Sprachprojekte und über Arbeitsmarktintegration. In den Handlungsfelder sind ganz unterschiedliche Akteure eingebunden – sowohl aus den unterschiedlichen Ämtern der Stadt Bielefeld, von den Wohlfahrts- und Jugendhilfeorganisationen bis hin zu Ehrenamtlichen.
Was hat es mit dem „Integration Point“ auf sich? Was ist das Besondere daran?
Der „Integration Point“ ist eine Initiative, die von der Agentur für Arbeit ausging. Es handelt sich um eine konkrete Zusammenarbeit zwischen der Agentur, dem Jobcenter und dem Ausländeramt. Das gemeinsame Ziel ist es, sehr früh den aufenthaltsrechtlichen Status von Zugewanderten zu klären und eine Art Kompetenzdiagnose zu machen – sowohl im Hinblick auf die sprachlichen als auch auf die beruflichen Kompetenzen. Sodass man anhand dieser Orientierung schnell entscheiden kann, in welche Förderstrukturen die jeweilige Person eingesetzt werden kann.
An welcher Stelle helfen Ihnen die Transferagenturen für Großstädte?
Wir wussten, dass einige „Lernen vor Ort“-Kommunen zum Beispiel im Bereich Bildungsmonitoring sehr weit sind und wir erhalten von ihnen wichtige Anregungen. Datenbasiert Interventionsräume zu entdecken oder Ansatzpunkte für Interventionen ist eine zentrale Orientierung für unser Handeln. Wir sind zugleich durchaus so selbstbewusst, dass auch wir bestimmte Dinge in den Austausch einbringen können. Wir sind mit dem Lernreport schon relativ weit. Den haben wir zusammen mit der Universität Göttingen und der Bertelsmann-Stiftung entwickelt. Deswegen ist grundsätzlich Austausch für uns sehr wichtig. So müssen wir nicht alles neu erfinden.
An welchen Stellen knirscht es bei Ihnen noch trotz der Erfahrung mit dem kommunalen Bildungsmanagement?
Wir wünschen uns, dass der Lernreport mit seinen Handlungsanforderungen aktiver aufgegriffen wird. Er ist wie ein politisches Selbstbedienungsbuffet, indem er Daten ansprechend präsentiert und Handlungsanforderungen formuliert, die im Prinzip fast antragsreif sind. „Von Daten zu Taten“ lautet da der Wunsch unsererseits. Aber dieser Schritt ist schwierig und noch hakt es an der einen oder anderen Stelle. Uns geht es nicht mehr nur darum, Entwicklungen lediglich zu beschreiben. Wir wollen wissen, wo wir intervenieren können.
Wir haben in Bielefeld eine sehr diverse Struktur, was die sozialen Ausgangslagen für Kinder angeht. Trotzdem konnten wir bereits Erfolge verzeichnen. Mithilfe der Erkenntnisse des kommunalen Lernreports haben wir die Eingangsklassen in Quartieren mit hohen sozialen Belastungen gesenkt. Wir haben Schulsozialarbeiter prioritär in den Schulen eingesetzt, die an der Spitze dieser sozialen Benachteiligung liegen. Dass wir nicht alle gleich behandeln, sondern schauen, wo es mehr Ressourcen benötigt, hat sich bewährt. Es gibt jedoch noch so viel mehr Dinge, die wir anstoßen könnten, wenn wir über die richtige Datenbasis verfügten.
Das Interview führten wir auf der Jahrestagung der Transferagenturen für Großstädte am 13. April 2016 in Essen. Die Dokumentation der Veranstaltung finden Sie hier.