
Die Montag Stiftungen Jugend und Gesellschaft und Urbane Räume begleiteten die Stadt Köln in dem Prozess zur Bildungslandschaft Altstadt Nord. Dr. Karl-Heinz Imhäuser erläutert im Interview die Rolle der Stiftungen, die Besonderheiten einer solchen Zusammenarbeit und die Relevanz von Prozessen.
Was macht die Bildungslandschaft Altstadt Nord für die Montag Stiftung so interessant?
Das Thema Bildungslandschaften wird in der Präzisierung und in Verbindung zu Lernen und Raum über den einzelnen Schulstandort in diesem Projekt ausgerollt. Im deutschsprachigen Raum gibt es damit kaum Erfahrung. Insofern ist es Modell- und Pilotprojekt für das Thema Raum und Lernen über eine einzelne Institution hinaus. Gerade bei der Verbindung mehrerer Einrichtungen zueinander und dem Zusammenspiel in einer realen Bildungslandschaft gibt es wenige Projekte in Deutschland. Das Thema hat sich natürlich entwickelt. Wenn man es jedoch abhebt von Projekten wie „Quadratmeter Bildung“, ist es bei der Bildungslandschaft Altstadt Nord dezidiert der räumliche Zusammenhang in der Entwicklungsfrage von Stadtentwicklung, Quartiersentwicklung, räumlicher Entwicklung von Bildungseinrichtungen immer im Zusammenhang mit Leben und Lernen im Quartier. Das ist das Besondere an diesem Projekt.
Wie sieht bzw. sah die konkrete Zusammenarbeit in dem Bildungsverbund Bildungslandschaft Altstadt Nord aus?
Am Anfang galt, das für die Bildungseinrichtungen durchaus verunsichernde Thema gut zu moderieren und über Workshops ins Spiel zu bringen: Was kann diese Zusammenarbeit in einem konkreten Sinne bedeuten. Die verschiedenen Einrichtungen befanden sich in einer Planungssituation, in der sie den Planungsraum noch gar nicht als gemeinsames Gelände empfanden . In den Umbauphasen galt und gilt es, vielfältige, parallele Raumnutzungsfragen von Eigen-, Misch- und Verbundnutzungen zu beantworten, und gleichzeitig mussten wir die konzeptionelle Frage der Zusammenarbeit immer wieder am Laufen halten.
Am Anfang investierten wir daher sehr viel in Workshops und in unterschiedliche Formate des Austausches. Im Moment befinden wir uns in einer Phase, in der sich die Einrichtungen selber um Formate wie kooperatives Lernen, Teamteaching oder Unterricht in Lernraumclustern kümmern. Ich denke, 2018 wird es eine weitere Begleitphase der Montag Stiftung brauchen können, wenn die räumlichen Zusammenhänge in einem der insgesamt drei Baufelder hergestellt sind. Dann schauen wir: Was hat sich in der Zwischenzeit entwickelt? Ist eine selbst organisierende, selbsttragende Struktur zustande gekommen?
In größeren zeitlichen Abständen findet ein Austausch statt, welche Weiterentwicklungen aktuell laufen. Diese Entwicklungen werden dort mit uns zurückgekoppelt. Im Moment sind wir nicht so intensiv involviert, wie wir das in den ersten Jahren waren, weil die Bautätigkeit Vorrang hat und man den Prozess nicht dauerhaft mit Mehrfachanforderungen überlagern sollte.
Durch den selbstorganisierten, selbsttragenden Prozess kümmern sich die Einrichtungen jedoch darum und arbeiten miteinander. Ich würde die Involvierung der Stiftung eher ab 2018 wieder sehen. Wo man einfach gucken muss: Bedarf es sinnvoller unterstützender Inputs, Begleitungen oder Finanzierungsaspekte, die die konzeptionelle Entwicklung in den dann schon gebauten Räumen befruchten muss. Aber das ist eine Zukunftsfrage.
Warum benötigen Verwaltungen oder Bildungseinrichtungen Hilfe von Stiftungen?
Weil nach wie vor eine hier in Bezug auf Raumnutzungen in Verbindung zu einer übergreifenden konzeptionellen Kooperation über die einzelne Bildungseinrichtung hinausgehende Zusammenarbeit ein ungewohntes Moment ist. Es wird sehr entscheidend davon abhängen: Wie wird das Campusmanagement „passieren“? Das ist strukturell noch nicht komplett entwickelt. Wird es eine Stelle geben? Oder wie sind die personellen Ressourcen so aufgebaut, dass die Zusammenarbeit eine Halte- bzw. eine Ablaufstruktur hat. Mit diesen Fragen hängen die Unterstützungsfragen zusammen. Wie gesagt, ich glaube, 2018 muss man da wieder genauer hingucken, wenn tatsächlich die sehr intensiven Bautätigkeiten mit ersten Umzügen eine Realität schaffen. Die Zusammenarbeit ist da, sie hat aber noch einen Status zwischen formellem und informellem Charakter, weil die Einrichtungen im Moment an unterschiedlichen Stellen angelagert sind.
In welchen Rahmen tauschen sich die Akteure der Bildung und der Stadtentwicklung aus?
Stadtentwicklung ist als Verwaltungsabteilung nicht unmittelbar zwingend involviert in konkrete konzeptionelle Projekte oder Projektentwicklung der Bildungslandschaft. Das war sie in der Planungsphase, vor dem städtebaulichen Planungsworkshop, in der Phase zwischen 2007 bis 2009. Das ist sie heute durch ihre Beteiligung im Lenkungskreis, dort wird sie informiert. Aber dieser Prozess ist weitgehend abgeschlossen.
Sie haben erst kürzlich einen Artikel mit dem Namen „Wenn Bildung in Deutschland ein Auto wäre“ verfasst. Für alle, die ihn nicht gelesen haben: Was wäre, wenn Bildung ein Auto wäre?
Wir stehen vor einem Musterwechsel, das wollte ich mit dem Bild des Autos klar machen. Bisher haben wir einzelne Einrichtungen betrachtet, also einzelne Autos. Diese kann man auseinandernehmen oder zusammenbauen. Dann ist man in einer anderen Welt unterwegs, als wenn man Autos anschaut, die sich im Verkehr bewegen. Durch die schiere Vielzahl der Autos, die aufeinandertreffen, verändern sich auch Probleme, die man lösen muss. Da geht es nicht mehr um das reine Funktionieren von Autos, sondern um das Funktionieren von Verkehrsflüssen. An der Stelle muss man mit ganz anderen Mustern Fragen stellen. Man muss von der Stauforschung lernen und nicht mehr von der Reparaturforschung. Die Stauforschung bietet interessante Muster an über Entwicklung, beispielsweise die Frage: Wo und warum entsteht ein Stau aus dem Nichts? So entwickelt man Fragen und Lösungsansätze, die mit selbstorganisierten Prozessen zu tun haben. Und so ist man da, wo Bildungslandschaften sind. Man kann Teile der Prozesse formalisieren. Doch Teile der Prozesse müssen selbstorganisierte Prozesse sein: Sie ergeben sich aus der Form, der Energie und aus dem Willen der Zusammenarbeit aller Mitglieder als nutzenorientiertes Verhalten.
Das funktioniert nicht nur über dezidierte Planungsalgorithmen, sondern eben über Selbstorganisationsfragen: Wie entstehen neue Muster? Man kann Bildungseinrichtungen auseinandernehmen und zusammenschrauben. Doch Bildungslandschaften müsste man viel eher mit den Mitteln der Quantitäten, also der Menge an Verkehr, der Menge an Beteiligung berechnen und sich im weiteren Schritt um Selbstorganisationsfragen und Stauforschung kümmern.
Wie kann die Zusammenarbeit von Bildung und Stadtentwicklung zu Bildungsgerechtigkeit beitragen?
Die Frage nach Bildungsgerechtigkeit stellen wir uns natürlich nicht erst seit PISA. Sie ist vielmehr ein Thema seit den 70er Jahren. Damals ging es um Chancengleichheit, heute geht es um Chancengerechtigkeit. Heute muss man Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit zusammendenken. Ich stelle das oft mithilfe eines Bildes dar: Mittlerweile gibt es nicht mehr nur den König, der das Mikrofon in der Hand halten darf und am Rednerpult steht sondern als Metapher drei Rednerpulte, an denen drei verschiedene Menschen ihre Position einnehmen können. Doch nicht alle haben die gleichen Voraussetzungen. Jemand, der 1,80m ist, an einem 1,50m großen Pult, wird mit dem Mikrofon sprechen können. Jemand, der 1,20m ist, kommt gar nicht erst an das Mikrofon heran. Chancengleichheit – mehrere Personen dürfen Sprechfunktion haben – heißt noch nicht, dass jeder in der Lage ist, auch zu sprechen, d.h. seine Chance auch nutzen zu können. Chancengerechtigkeit bedeutet, wir müssen Podeste als Unterstützung bauen, dass jeder auf der gleichen Höhe ist, um ins Mikrofon sprechen zu können. Diese zwei Aspekte müssen wir miteinander verbinden. Der Mehrwert von Bildungslandschaften besteht darin, dass in diesem Zusammenbau innerhalb verschiedener Bildungseinrichtungen mehr Möglichkeiten entstehen, in denen individuelle Lernprozesse abgebildet werden können. So ist die Jugendeinrichtung nicht nur ein Ort des Nachmittagsbereichs, sondern in ein ganztägig rhythmisches Set integriert: Ein Jugendlicher, der morgens im Unterricht in einem bestimmten Lernsetting nicht teilhaben kann, aus welchen Gründen auch immer, kann vielleicht in dieser Zeit in der Jugendeinrichtung, in der ein anderes Angebot wartet, besser aufgehoben sein als in einer formalen Unterrichtssituation. Dabei kann es sich um ein Kind handeln, das z. B. einen Trauerprozess oder eine Trennung der Eltern durchleben muss. Das ist nicht immer gleich fit wie jemand, der ausgeschlafen, wach, aufgeregt und voller Neugier und Tatendrang in den Unterricht kommt. Das bedeutet, es gibt für jeden Menschen Situationen, in denen ein alternatives Angebot sinnvoll ist. Dabei können stadtbezogene Bildungslandschaften ein Mehr an Bildungssituationen zur Verfügung stellen, die spezifische Probleme einzelner Kinder und Jugendlicher in unterschiedlichen Rhythmen adaptieren. Eine einzelne Bildungseinrichtung kann das nur in einem wesentlich geringeren Umfang, vielleicht auch überhaupt nicht zur Verfügung stellen.
Wie gelingt es, in der Debatte um die Zusammenarbeit nicht immer nur auf Schulbau zu fokussieren? Brauchen wir überhaupt bessere Schulgebäude oder muss es um ganz neue Konzepte gehen, die informelle und digitale Bildungsräume mitdenken?
Das müssen wir in jedem Fall. Das Thema ist im Alltag der Kinder und Jugendlichen und der Erwachsenen längst angekommen. Wir müssen uns berechtigterweise die Frage stellen: Wie sieht situatives Lernen heute aus?
Ein klassisches Beispiel ist folgendes: Später nach der Veranstaltung hier werden viele von uns mit Zügen nach Hause fahren. Sie werden vielleicht Ihr Interview im Zug abtippen oder erste Aufnahmen abhören, den Kopfhörer einstecken. Sie sitzen im Zug in dem es nur so rauscht von Ablenkungen. In dieser Situation müssen Sie jedoch die Fähigkeit besitzen, sich entlang des Themas zu fokussieren, das Sie gerade bearbeiten. Auch dieses konzentrierte sachbezogene Bearbeiten kann man bestenfalls mit Lernen bezeichnen.
Arbeiten und Lernen sind Begriffe, die sehr fluide ineinander übergehen. Wir müssen dementsprechend Lernumgebungen schaffen, die nicht mehr jedwedes Rauschen abhalten bzw. als Störung klassifizieren. Rauschen muss vielmehr eine Möglichkeit sein, in dem Lernen stattfindet. Gleichzeitig aber müssen wir auch die Vielfalt bieten, Ruhezonen, Rückzugsnischen, kleinteilige Raumangebote zu haben, die auf unterschiedliche Bedarfe von Aufmerksamkeit hin ausgerichtet sind. Die klassische Lernsituation, in der 30 Menschen hören, was eine Person sagt, brauchen wir nicht mehr für das, was Lernen in der Zukunft bedeutet – wir müssen uns mit Informationsgewinnung, -aufbereitung und -verarbeitung auseinander setzen.
Ich sehe gerade in den Park: Dort sitzen Jugendliche an einem Laptop. Mag sein, dass sie ein Computerspiel spielen, aber auch dabei lernt man was. Bei Computerspielen sind Lerneffekte nachweisbar, die bei Hirnscannungen sichtbar gemacht werden können. An solchen zu beobachtenden Lernaktivitätsformen und Lernsituationen, Phänomenen müssen wir uns orientieren und uns sagen: „Das hat Konsequenzen für Schulbau.“