Mehrfachnutzung als strategisches Vorhaben der Stadtentwicklung

Die Stadt Wien macht aus der Not eine Tugend.
Graffiti an Hauswand

Städte und städtischen Raum als Lernwelt für Kinder und Jugendliche zu begreifen sowie den Bedürfnissen und Ansprüchen unterschiedlicher Nutzer:innen gerecht zu werden, stellt Kommunen immer wieder vor Herausforderungen. In der Stadt Wien gibt es seit 1998 ein Programm für Mehrfachnutzung, bei dem die Koordination der Mehrfachnutzung und Nutzung von Freiflächen in städtischer Hand liegen. Im Gespräch gibt uns Lena Rücker, Stadt Wien, Referat ‚Transdisziplinäre urbane Themen‘ Einblicke in das Programm.

Entstanden ist das städtische Mehrfachnutzungsprogramm als Reaktion auf zahlreiche Nutzer:innenkonflikte auf wenigen bestehenden Flächen: In den 90er-Jahren gab es viele Brachflächen, aber kaum Gestaltung(smöglichkeiten), und zu wenig Angebote für Kinder und Jugendliche. Insbesondere das Spannungsfeld zwischen fehlenden Angeboten und (pädagogisch unbetreuten) Aufenthaltsorten für Kinder und Jugendliche sowie Lärm und Ruhestörung in Innenhöfen von Gemeindebauten erhöhten den Handlungsdruck auf die Stadt. So standen zunächst Bereitstellung und die gestalterische Qualifizierung von Freiflächen im Vordergrund, Haftungs- und Versicherungsfragen sind erst mit der Zeit in den Fokus gerückt. Mit der Einführung von Mehrfachnutzung als strategischer Teil der Stadtentwicklung konnte vieles bewegt werden. Konflikte wie in der Anfangszeit brauche es heute keine mehr, nur noch Bedarfe, die aktiv an die Stadt herangetragen werden, resümiert Lena Rücker.
 

Ohne Haltung und unbedingten Willen geht es nicht

Mehrfachnutzung wird dabei als strategisches Instrument gesehen, das mit einfachen Mitteln auf Bedarfe der Zielgruppen reagieren kann. Dafür gibt es in der Stadt Wien extra eine Koordinationsstelle. Mit der Verortung im Referat „Transdisziplinäre urbane Themen“ in der Magistratsabteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung (MA 18) erfährt das Thema hohen Stellenwert. Auch gesamtstrategisch ist es fest verankert: So gehört Mehrfachnutzung untrennbar zur Smart City Wien Rahmenstrategie, mit der Wien eine ganzheitliche, nachhaltige Entwicklung der Stadt verfolgt.
 
Inzwischen hat Mehrfachnutzung in Wien eine lange Tradition und ihre Möglichkeiten sind gut dokumentiert und zusammengeführt, z. B. im Leitfaden für Bezirke „Mehrfach genutzt! Beispiele und Tipps zur Umsetzung“. Dennoch gibt es noch viele Einzellösungen und den daraus resultierenden Wunsch nach mehr systemischer Verankerung. Erste Schritte zur Systematisierung werden gegangen: Zum einen wird aktuell ein Screening durchgeführt, welches Schulfreiflächen erfassen soll, die noch nicht mehrfach genutzt werden. Zum anderen werden neue strategische Grundlagen für Mehrfachnutzung geschaffen. Bei der neuen Form der Wiener „Campus-plus“-Bildungsbauten, die eine vernetzende Schnittstellenfunktion im Stadtteil einnehmen sollen, wird bei der Planung und Gestaltung von neuen Bildungscampus-Standorten Mehrfachnutzung bereits von Anfang an mitgedacht – wie auch in der Wiener Schulbaurichtlinie empfohlen. Dabei hat die Mehrfachnutzung die grundsätzliche Planung nicht ersetzt, sondern lediglich ergänzt als ein Mittel zur Befriedung der artikulierten Bedarfe. Als Vorbild für das Schaffen einer strategischen Grundlage speziell für Schulfreiflächen oder städtische Brachen gilt der neue Wiener Sportstätten-Entwicklungsplan „Sport.Wien.2030“, denn er sieht den strategischen Ausbau und das Tätigen von gezielten Investitionen in Mehrfachnutzungen von Out- und Indoor-Sportflächen vor.
 
Ausgangslage des unbedingten Willens zur Umsetzung ist die veränderte Haltung. So brachte es die ehemalige Koordinatorin der Mehrfachnutzung der Stadt Wien (1998 bis 2018) und Wiener Pionierin dieses Themas, Jutta Kleedorfer, einst auf den Punkt: „Eingefahrene Denkmuster vergessen und umdenken!“ (Mehrfachnutzung in Wien - YouTube). Was das im Alltag konkret bedeutet, erklärt Lena Rücker: 

Die grundverwaltenden Dienststellen und Bezirke müssen hinter der Sache stehen. Wir als strategisch Zuständige für den Bereich Mehrfachnutzung können nur Vorschläge machen, Empfehlungen geben und Überzeugungsarbeit leisten. 

Lena Rücker, Stadt Wien, Referat ‚Transdisziplinäre urbane Themen‘ in der Magistratsabteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung (MA 18)

"Das machen wir unter anderem mit Stadtteilspaziergängen, die Aufmerksamkeit für das Thema genieren. Wir versuchen zum einen, den Mehrwert zu verdeutlichen und aber auch möglichst klar über den tatsächlichen Aufwand, die anfallenden Kosten sowie dahingehend effiziente Organisations- und Finanzierungsmodelle zu informieren.“ Um diese Überzeugungsarbeit vor Ort und in der Verwaltung leisten zu können, braucht es eine klar verankerte Zuständigkeit: 

Es braucht eine Person, die für das Thema brennt und dafür auch Kapazitäten hat, sonst wird es nur zum Nebenschauplatz. Wir sehen uns als Mediator:innen: wir informieren, vermitteln und kommunizieren mit den Nutzer:innengruppen und Zuständigen in der Verwaltung. Wir zeigen anhand von Erfahrungen konkrete Lösungen auf.

Lena Rücker, Stadt Wien, Referat ‚Transdisziplinäre urbane Themen‘ in der Magistratsabteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung (MA 18)
Der positive Effekt der Arbeit ist sichtbar: Zum Beispiel ist die Bezirksvertretungen des Stadtteils Grätzl früher an die Koordination für Mehrfachnutzung herangetreten, weil sie mit der Bereitstellung von Flächen für Kinder und Jugendliche auf Konflikte reagieren mussten. Heute erfolgt die Bedarfsermittlung über Akteur:innen des Stadtteils und den Einrichtungen im Sozialraum, noch bevor es zu Konflikten kommt. Ein nächster Schritt ist nun das proaktive Anbieten von Flächen, um Niedrigschwelligkeit zu gewährleisten.
 

Verbindlichkeit schaffen, Lösungen finden

In der Regel kann auf die Bedarfe der Zielgruppe mit wenig Mitteln und kostengünstig reagiert werden, wenn bestehende Synergien genutzt und zwischen den Akteur:innen im Sozialraum bzw. Stadtteil regelmäßig und offen kommuniziert wird, bspw. im Rahmen runder Tische. Lena Rücker hat auch hierfür ein Beispiel aus der Praxis: Bei der Frage wie das Abschließen eines Schulgebäude nach der Nutzung durch außerschulische Akteur:innen sichergestellt werden könne, stellte sich heraus, dass ein Schließdienst, der ohnehin im Stadtteil unterwegs sei, auch das Zuschließen an einem weiteren Ort übernehmen könne. In der konkreten Umsetzung konnten Haftungsfragen über Versicherungen der Bezirke geklärt werden. Kosten für bauliche Veränderungen an Schulen für Mehrfachnutzung konnten teils aus Förderinstrumenten der Stadt, aber vor allem aus den bezirklichen Haushalten finanziert werden. Um an diesen Punkt zu kommen, brauchte es einen längeren Prozess, der oft zäh und nicht ganz einfach gewesen sei, erinnert sich Lena Rücker, in jedem Falle aber lohnend, denn in der Regel könne immer eine Finanzierung realisiert werden: 

Die Mehrwerte, die durch Mehrfachnutzung entstehen, sind unmittelbar wahrzunehmen und auch politisch gut kommunizierbar.

Lena Rücker, Stadt Wien, Referat ‚Transdisziplinäre urbane Themen‘ in der Magistratsabteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung (MA 18)
Mehrfachnutzung ist somit stark von der Haltung der grundverwaltenden Dienststellen und jeweiligen Bezirksstadträt:innen abhängig, derzeit auch (noch) eine freiwillige Leistung. Um auch bei politischen Veränderungen arbeitsfähig zu bleiben, hat es sich bewährt, Verträge zu einzelnen Projekten abzuschließen. So werden Verbindlichkeit und klare Zuständigkeit sichergestellt.
 

Mehr Raum heißt mehr Demokratie

Letztlich habe Mehrfachnutzung nicht nur positive Effekte auf die Ressourcennutzung und die Befriedung von Bedarfen verschiedener Zielgruppen, sondern auch auf individuelle Erfahrungen und den Kompetenzerwerb für die Einwohner:innen, resümiert Lena Rücker. Wenn Bürger:innen Unterstützung erhielten und für ihre Anliegen Lösungen gefunden würden, würden sie die Erfahrung machen, dass das Äußern von Bedarfen oftmals positive Veränderungen nach sich ziehe: „Es hat eine Bewusstseinsänderung in der Stadtbevölkerung gegeben: Kinder und Jugendliche etwa haben gelernt, dass sie sich einbringen können.“ So hat das klare Bekenntnis der Stadt Wien, den Bedürfnissen und Wünschen der Bürger:innen konstruktiv und kreativ zu begegnen, letztlich auch das Demokratieverständnis verbessert.
 
Viel ist also schon erreicht, doch es bleiben weitere Herausforderungen auf der Agenda. So sollen die „leisen Zielgruppen“ wie bspw. Mädchen verstärkt angesprochen werden und Flächen zeitweise exklusiv nutzen können. Auch mehr Angebote in geschlossenen Räumen werden angestrebt, insbesondere durch Zwischennutzung. Aber auch der Wunsch nach Freiraum und weniger betreuten Angeboten soll realisiert werden. Darüber hinaus strebt die Stadt Wien eine intensivere Vernetzung von Akteur:innen an, um ihnen mehr Gestaltungsspielraum zu ermöglichen, auf Bedarfe einzugehen. In jedem Falle hat es die Stadt Wien in den letzten Jahrzehnten geschafft, aus der Not eine Tugend zu machen und mit kreativen Mitteln mehr Raum für Kinder und Jugendliche geschaffen.

Dieser Text ist Teil des Themendossiers "Mehr Raum für Bildung - Kreative Nutzungsmöglichkeiten für Gebäude und Flächen in Städten", das im Mai 2022 veröffentlicht wurde. 

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