Das Potenzial von kommunalem Bildungsmanagement? Bildungsorte zu schaffen, die die demokratische Entwicklung der Gesellschaft fördern

Interview mit Prof. Dr. Stephan Maykus, Professor an der Hochschule Osnabrück

Im Interview erklärt der Sachverständige der Kommission des 15. Kinder- und Jugendberichts Prof. Dr. Stephan Maykus, wie Kinder- und Jugendbeteiligung die Demokratie fördern kann.

Im 15. Kinder- und Jugendbericht wird die Selbstpositionierung als zentrale Dimension des Erwachsenwerdens beschrieben, die unsere Demokratie stärke. Was ist damit gemeint?

Im Bericht wird zunächst die Leitperspektive „Jugend ermöglichen“ entworfen. Damit ist gemeint, dass die Lebensphase Jugend nicht nur eine Phase des Erwachsenwerdens ist, die individuell bewältigt und gestaltet werden muss. Nein, diese Herausforderung trifft auch auf soziale und gesellschaftliche Bedingungen. So handelt der Bericht auch von einem Verständnis von Jugend, die eine bestimmte Art und Weise des Teilwerdens von Gesellschaft betont, es ist die Rede von einem „gesellschaftlichen Integrationsmodus Jugend“. Dabei kommen drei Kernherausforderungen für Jugendliche zum Tragen: Qualifizierung, Verselbständigung und eben die Selbstpositionierung. Wenn Jugendliche sich positionieren, dann vermitteln sie ihre Interessen, Wünsche, Ziele, Wertvorstellungen mit denen in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen und auch Institutionen. Sie gestalten eine Balance zwischen Individualität und Integration, zwischen einzigartigen und persönlichen Lebens- und Denkweisen und den gesellschaftlich geprägten, für soziale Teilhabe wichtigen Verhaltensweisen. Selbstpositionierung wird vor allem durch Erfahrungen der Partizipation gefördert und durch die Möglichkeit, eigene Themen einzubringen, zu verhandeln, Gründe auszutauschen, Perspektiven zu vergleichen und Einfluss zu nehmen. Das stärkt Demokratie, weil es selbst eine Erfahrung in demokratischem Handeln ist und eine politische Haltung sowie Kultur prägen kann. Politische Bildung im Jugendalter sollte genau das fördern, das konkrete Engagement und partizipative Erfahrungen. Die Demokratieorientierung der Jugendlichen ist durchaus hoch, die Formen der Partizipation und des Engagements können aber noch besser an den Jugendinteressen anknüpfen.

Heißt das, vergangene Versuche sind gescheitert? Oder hat sich die Welt so sehr verändert, dass es neue Formen braucht?

Von Scheitern würde ich so pauschal nicht sprechen. Aber ich denke, die Betonung der Partizipation hat mit veränderten Verhältnissen zu tun, die eine andere Reichweite von Beteiligung erfordern. Wenn die Welt, wie in der Frage angedeutet, anders, komplexer, unkalkulierbarer geworden ist, dann sind Erfahrungen der Selbstwirksamkeit umso wichtiger. Und mit der Digitalisierung geht die Anforderung einher, Jugendlichen zu ermöglichen, sich Urteile differenziert und begründet zu bilden, die dann Grundlage ihres Handelns werden. Dafür braucht es soziale Begegnungen, Erfahrungen des Austauschs und des Zusammenlebens. Der Nahraum der Jugendlichen, ihre alltägliche Lebenswelt, ihre Orte, sollten daher viel mehr als Räume gesehen werden, die durch sie gestaltet werden. Da reichen einmalige Projekte, Aktionen oder Mitmachwettbewerbe nicht aus. Gefragt ist eine konsequente Jugendorientierung in den Institutionen vor Ort. In Schulen, Vereinen, Jugendhäusern, Kultur und Sport sollten grundsätzliche Strukturen der Beteiligung umgesetzt werden:
Zunächst Jugendliche mit ihren Themen und Interessen wahrnehmen, es spiegeln und ihnen mitteilen, zum Thema der Jugendlichen machen. Dann sollte es Räume der gemeinsamen Beratung und Aushandlung nach vereinbarten Regeln geben, Beschlüsse gefasst werden und Jugendliche mit ihren jeweiligen Themen auch öffentlich sichtbar werden lassen: mit einem Info-Stand in der Schule, der eigenständigen Durchführung einer Projektwoche, einem Angebot im Jugendhaus oder eine Initiative des Sportvereins, der sich mit seiner Jugend im Stadtteil engagiert. Eine neue Reichweite der Beteiligung als Handeln in demokratischen Strukturen und eine jugendorientierte Konsequenz aller Beteiligten darin – das könnte man dann als „neue Form“ bezeichnen.

Im Bericht heißt es, dass Institutionen sich demokratisch öffnen müssten. Was sollte Verwaltung konkret tun?

Ich habe schon angedeutet, dass es für Schulen um die Entwicklung eines jugendorientierten Profils geht, allen voran in den Ganztagsschulen: Das Profil drückt dann auch aus, dass es neben den Klassenräten und Schülervertretungen eine bewusste Gestaltung der Jugend-Schulöffentlichkeit geht. Das heißt, es sind Formen und Wege vereinbart, wie die Themen der Jugendlichen in den Vertretungsgremien und anderen Mitbestimmungsformen landen: Regelmäßige Versammlungen, Arbeitskreise, Meckerkasten, speakers corner, Debattenveranstaltungen, selbstverantwortliche Evaluationen des Schullebens als „Jugend-Schulcheck“ usw. Dabei wäre dann sichergestellt, dass nicht nur schulbezogene, sondern auch lebensweltlich relevante Interessen Eingang finden in die Schule; und auch wieder rückwirkend in den Stadtteil, die Orte der Jugendlichen oder Institutionen gelangen. Das steht in meinen Augen für eine lebendige, dynamische, stadtgesellschaftliche, also „kommunale Aktivierung des Jugendlebens“. Und daran, um ein weiteres Beispiel herauszugreifen, hat die Verwaltung mit dem kommunalen Bildungsmanagement einen bedeutenden Anteil an der „Aktivierung des Jugendlebens“. Bildung und Jugend in der Stadt ist nicht einfach ein Anwendungsbeispiel oder -feld für kommunales Bildungsmanagement, sondern konfrontiert es mit seinen Bezügen zum kommunalen Bildungsgeschehen selbst. Das Potenzial des kommunalen Bildungsmanagements bezieht sich einerseits zwar auf Daten, Vernetzung, Koordinierung, Ziel- und Ressourcenorientierung, anderseits aber auch auf die Initiierung von kommunalen Bildungsgelegenheiten als Basis von Gesellschaftsentwicklung in den Stadtteilen. Die Verständigung über Vorstellungen guten Zusammenlebens, von gelingender Integration, vom Jugendlich-Sein und hierfür relevanter Bildung kann nicht einfach Betrachtungsobjekt sein. Das lässt sich nämlich kaum anhand von Daten darstellen. Sondern das ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung in den Stadtteilen. Kommunales Bildungsmanagement kann das initiieren, zur Formulierung und Verfolgung starker, wirkungsvoller Ziele beitragen, kann die kommunale Praxis orientieren und ausrichten helfen. Es kann dabei in der Stadt eine schlüssige, gemeinsam vereinbarte Strategie für das grundlegen, was kommunal beeinflusst werden kann: jugendorientierte Konzepte in der Schul- und Sozialpädagogik, der Einsatz für das städtische Jugendleben, die Abstimmung der Akteure vor Ort und konsequente Partizipation, eben Jugend in der Stadt ermöglichen.

Ein Fazit lautet: „Entsprechend bleibt unklar, ob die Partizipation von Jugendlichen […] nur so weit reicht, wie sie nicht der organisationalen Effizienz der jeweils Partizipation ermöglichenden Institution schadet.“ (S. 114) Wie kann man dem entgegnen?

Unklar bleibt in der Betrachtung aller Partizipationsfelder und -bedingungen von Jugendlichen – die im Einzelnen ja auch gar nicht vollumfänglich erfasst und bewertet werden können – ob die gerade beschriebene neue Reichweite und Konsequenz einen hervorgehobenen Stellenwert in den Organisationen spielen, ob sie also einen Sinn damit verbinden und die Erfahrung von Partizipation ihre Ziele und Aufträge gut (vielleicht besser) erreichen lässt. Bislang kann man einen solchen jugendorientierten Organisationswandel wohl nicht beobachten. Daher stammt die beschriebene Kritik: Im Zweifelsfall kommen die Perspektiven der Fachkräfte oder der Auftraggeber an erster Stelle, bevor die Stimmen der Jugendlichen gehört werden. Beispiel Ganztagsschule: Die Akzeptanz bei Jugendlichen wäre sicher höher, wenn sie Partizipationsstrukturen und -erfahrungen als Konzeptkern profilieren würden. Dafür muss es Anreize geben, die innovativen Modellen einer multiprofessionellen und partizipativen Pädagogik des Jugendalters angemessene Rahmenbedingungen verschaffen: durch Entscheidungen in der Politik, entsprechende Gesetzgebungen und Richtlinien, durch Finanzierungsformen. Und natürlich ist Qualifizierung wichtig, z.B. im Studium: Partizipation ist nicht nur Merkmal einer Jugendpädagogik, sondern auch Ausdruck von pädagogischer Kompetenz. Und sie ist Merkmal einer derart offenen Gestaltung von Organisationen, die durch Führungskräfte und Teamarbeit unterstützt werden muss.

Wie empfinden Jugendliche eine gelungene Beteiligung?

Alibibeteiligung wird schnell entlarvt: Dann werden Jugendliche um ihre Meinung oder nach Ideen gefragt, ohne dass das aber wirklich von Bedeutung wäre für den Anlass. Da muss vielleicht eine Beteiligungsaktion offiziell nachgewiesen werden, ohne sie für Entscheidungen zu nutzen, Jugendliche dabei auch einzubeziehen und vor allem ohne ihnen die Rahmenbedingungen der Beteiligung zu erklären: Worüber soll wie gemeinsam nachgedacht werden? Warum in welcher Form? Was passiert später mit den Ergebnissen? Wie haben Jugendliche die Möglichkeit, an Entscheidungsprozessen mitzuwirken? Gelungene Beteiligung ist dann das Gegenteil davon und möglichst die Erfahrung in einer ohnehin erlebten Kultur der Teilnahme. Beteiligungsphasen, z.B. bei Planungsanliegen öffentlicher Räume und zu deren Gestaltung für Jugendliche, sind wichtig, ersetzen aber nicht die konsequente und verbreitete, demokratisch strukturierte Partizipation, wie sie oben skizziert wurde. Dann laufen einmalige Beteiligungsaktionen auch nicht leer, sondern können nachwirken in anderen Zusammenhängen, für die sich Jugendliche engagieren.

Was braucht es, damit die Beteiligung im Sozialraum gelingt?

Um ein (Ideal-)Bild zu vermitteln, umreiße ich an dieser Stelle ein Rahmenkonzept, das ich in den nächsten Jahren mit einer Stadtverwaltung entwickeln möchte. Ich nenne es das „Forum junges Stadtteilleben“, das die (durchaus gemischten) Erfahrungen kommunaler Jugendbeteiligung mit ihren selektiven Effekten und vielleicht fremd wirkenden Organisationsformen aufgreift und eine umfangreichere, alle Stadtteilakteure einbeziehende Dauerstruktur der Stadtteiljugendbeteiligung und -politik schaffen möchte. Gar nicht so einfach und sicher ein langfristiges Vorhaben, aber den Grundsätzen einer konsequenten Jugendorientierung im kleinräumigen Sinne verpflichtet: Alle beteiligten Einrichtungen und ein durch sie gegründetes Netzwerk im Stadtteil sollen nach einer Pädagogik der Partizipation und demokratischen Engagementförderung arbeiten, wie sie Benedikt Sturzenhecker für die Jugendarbeit und Bildungsnetzwerke entwickelt hat. Sie haben damit eine verbindende Grundlage und ein gemeinsames Verständnis von Jugendpädagogik. Das allein wäre schon ein Gewinn. Zusätzlich aber ist an die Gründung eines Stadtteiljugendparlamentes oder Jugendbürgerforums im Stadtteil gedacht, in das alle Institutionen gewählte jugendliche Mitglieder entsenden – sie machen das damit zu einem Teil ihres Alltags in der Schule, dem Verein oder dem Jugendhaus. So entsteht eine permanente Orientierung an Partizipation und gleichzeitig eine verbindliche Struktur von Stadtteilöffentlichkeit sowie idealerweise die benannte lebendige kommunale Aktivierung des Jugendlebens. Das ist auch ein Impuls für entsprechende Konzepte und Organisationsgestaltung, also Anlass für eine weitere pädagogische Professionalisierung der Akteure vor Ort. Beides, das Netzwerk der Fachkräfte und das Jugendstadtteilparlament, führen mehrmals im Jahr gemeinsame Sitzungen durch, bringen also ihre Themen in Berührung und zur Verhandlung. Genau das ist dann im Zusammenspiel das „Forum junges Stadtteilleben“. Und wenn dann Verwaltung und Politik sich mit den Ergebnissen des Forums beschäftigen und in ihre Entscheidungen einbeziehen, hätte das kommunale Bildungsmanagement und die Bildungs- und Jugendpolitik vor Ort ein Fundament, das das Plädoyer des 15. Kinder- und Jugendberichtes für eine neue jugendorientierte Politik auch wirklich mit (Stadt-)Leben füllt.

Der Auftrag an die Sachverständigenkommission lautete, die Sicht der Jugendlichen in den Bericht einfließen zu lassen, wie haben Sie das umgesetzt? Und was haben Sie dabei mitgenommen?

Die Formulierung ist richtig, wir haben Sichtweisen eingeholt und einfließen lassen, aber eben keine Beteiligung organisiert. Das wäre mit der Arbeitsorganisation nicht vereinbar gewesen. Wenn das wirklich erfolgen soll, müssten zukünftige Berichtskommissionen hierfür entsprechende Rahmenbedingungen erhalten: einen längeren Zeitrahmen für die Entstehung des Berichtes, veränderte Darstellungsformen und Produkte, ein Budget für eigene Aktivitäten und etwa eine begleitende Jugendkommission, das wäre dann konsequent. So konnten wir dann lediglich mehrere Gruppengespräche in Jugendhäusern und Schulen durchführen, auch ein Radiobeitrag wurde von einem Jugendmedienclub produziert. Das war wichtig und hat die Debatten der Kommission durchaus beeinflusst, bleibt aber natürlich exemplarisch und kann nicht verlässliche Grundlage des Berichtes sein. Wir haben die Stimmen der Jugendlichen im Bericht dokumentiert, sie verdeutlichen viele Teilthemen sehr gut. Eine intensivere und umfassendere Beteiligung würde ich in Zukunft aber sehr begrüßen, genau wie das Bemühen um einen jugendorientierten Transfer des Berichts mit einer eigenen Jugendbroschüre – das sind alles gute Ansätze, die es weiterzuverfolgen gilt. Und eine jugendliche Stimme aus dem Bericht verdeutlicht das dann auch: „BürgermeisterInnen, Gemeinde- und OrtsvorsteherInnen müssen mit jungen Menschen im Gespräch bleiben. Der Blick von jungen Menschen ist zunächst vor allem auf ihren Nahraum gerichtet. Und ja, Jugendliche wollen gestalten. Aber sie wollen selbst entscheiden, welchem Thema sie sich widmen.“

Li15. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland

impulse

Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts: Projekt:  Erwachsen werden

Gesellschaftliches Engagement von Benachteiligten fördern

Konzeptionelle Grundlagen für die Offene Kinder- und Jugendarbeit von Benedikt Sturzenhecker und Moritz Schwerthelm

Fachgruppentreffen "Lokales Bildungsmanagement" und "Kooperation Kommune und Zivilgesellschaft"

"Bildung im Sozialraum gestalten: Gemeinsam mit Zivilgesellschaft"

Das Interview ist Teil unserer neuen Ausgabe des "bewegt"- Magazins, das demnächst erscheint.