
Dr. Franziska Giffey spricht im Rahmen der Auftaktveranstaltung der Transferagenturen für Großstädte auf dem Campus Rütli in Berlin über Bildungsgerechtigkeit in Neukölln, die Herausforderung der Zweistufigkeit der Verwaltung in der Hauptstadt und ihre ganz eigene Vision des Stadtteils.
Wie stellt man in einem Bezirk wie Neukölln Bildungsgerechtigkeit her?
Das ist die Kernfrage, die uns tagtäglich beschäftigt: Wie schaffen wir es, dass Kinder, die aus sozial schwierigsten Verhältnissen kommen, die gleichen Chancen auf Bildung haben wie diejenigen aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern? Das ist in vielen, vielen Fällen noch nicht gegeben. Ich würde mir wünschen, dass wir viel konkreter die Dinge diskutieren, die dafür als Rahmenbedingungen nötig sind. Stärkung der Institutionen ist da ein wichtiges Stichwort. Wir sehen, dass viele Eltern ihre Kinder nicht ausreichend unterstützen und auf die Schule vorbereiten können. Das bedeutet, dass wir die Einrichtungen der frühkindlichen Förderung und auch der Schulen stärken müssen, um ein Stück weit auszugleichen, was in den Familien nicht möglich ist. Wir brauchen Ganztagsschulen, Lernwerkstätten, Schulsozialarbeit, aktive Elternarbeit.
Welche Bedeutung hat in dem Zusammenhang kommunales Bildungsmanagement?
In einem Stadtstaat wie Berlin bedeutet das zunächst einmal, dass Bezirke und Land gemeinsam an diesen Strukturen arbeiten müssen. Man darf Schule eben nicht mehr nur als pädagogische Insel sehen, sondern muss sie ganzheitlich betrachten – auch im Zusammenhang eines Gebietes in der Stadt. Und das heißt, dass das, was an Bildung, an Schulattraktivität entwickelt werden soll, in Ansätze von sozialer Stadtentwicklung eingegliedert werden muss. Damit das miteinander funktioniert und interagiert, damit Schule und Jugend gut zusammenwirken können, braucht es ein übergeordnetes Management. Wir müssenBildungslandschaften entwickeln, die darauf abzielen, dass die Akteure vor Ort zusammenarbeiten, die sich mit Kindern und Jugendlichen in ihrer ganzen Biografie beschäftigen, ihre Konzepte aufeinander abstimmen und so Übergänge besser gestalten.
Welche Themen würden Sie gerne mit den Transferagenturen für Großstädte bewegen?
Konkrete praktische Fragen, die uns in Neukölln beschäftigen, sind: Was macht man mit Eltern, die ihre Kinder nicht ausreichend unterstützen? Wie geht man mit Kindern um, die in die Schule kommen und massive Entwicklungs und Sprachstörungen aufweisen? Was macht man mit interkulturell geprägten Klassen voller Kinder aus aller Herren Länder – mit vielen Kindern, die gerade frisch nach Deutschland gekommen sind und kein Wort Deutsch können? Wie schaffen wir es, an die schwierigsten Schulen die besten Lehrer zu bekommen? Und letztendlich: Wie schaffen wir es, den gebundenen Ganztag als Programm für ein gutes Bildungs- und Freizeitangebot gerade für Kinder aus benachteiligten Familien umzusetzen und auszubauen? Dafür brauchen wir Unterstützung. Ich hoffe, dass die auch von Bundesseite kommt.
Berlin ist Stadtstaat und darüber hinaus ein Sonderfall. Was ist hier die größte Herausforderung für einen Bezirk wie Neukölln – in Bezug auf kommunales Bildungsmanagement?
Wir haben in Berlin die Zweistufigkeit der Verwaltung, also Hauptverwaltung und Bezirksverwaltung. Die äußeren Schulangelegenheiten, Gebäude etc., werden durch den Bezirk verantwortet. Alles, was das innere Schulwesen betrifft, wie interne Curricula, Lehrer einstellen und so weiter, wird auf Landesebene geregelt. Da geraten also ständig Zuständigkeiten aneinander. Die Schwierigkeit ist tatsächlich, in Verantwortung zu denken, und nicht in Zuständigkeiten. Und vor allen Dingen: Dann auch in Verantwortung zu handeln! Das bedeutet, dass man Ressortgrenzen durchaus auch überwinden muss. Und das ist leicht gesagt, aber sehr schwer in die Tat umzusetzen. Sehr oft scheitert man da an Formalstrukturen, an gesetzlichen Rahmenbedingungen. Darüber müssen wir uns auseinandersetzen.
Auf Verwaltungsebene: Wie sieht Ihre Vision für Neukölln aus? Welche Strukturen braucht es, um den Bürgern in ihrem Bezirk bestmögliche Bedingungen zu ermöglichen?
Meine Vision von Neukölln ist ein weltoffener und internationaler Bezirk, der mit innovativen Konzepten und pragmatischen Lösungen an die Herausforderungen im sozialen Brennpunkt herangeht und Rahmenbedingungen schafft, damit jedes Kind die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben bekommt und gerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für alle möglich ist. Wir brauchen gute Bildungseinrichtungen, eine starke Wirtschaft und eine soziale Stadtentwicklung, um Neukölln als lebenswerten und attraktiven Bezirk voranzubringen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Akteure aus Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Verantwortung übernehmen und zusammenarbeiten.
Ein Beispiel guter Praxis – Ein Quadratkilometer Bildung Berlin-Neukölln
Ein Quadratkilometer Bildung Berlin-Neukölln ist ein Netzwerk von öffentlichen Schulen, Kindertagesstätten, Jugendeinrichtungen und Vereinen. Das Quartier ist geprägt durch wachsende Einkommensarmut, aber zunehmend auch durch junge Menschen aus der Mittelschicht, die hier eine Zukunft sehen. Im Fokus der Netzwerkarbeit stehen nicht die Kooperationsbedürfnisse von Erwachsenen, sondern die Bildungsbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. Ein Quadratkilometer Bildung Berlin-Neukölln ist eine gemeinsame Initiative von Campus Bildung im Quadrat, der Freudenberg Stiftung, der Karl-Konrad-und-Ria-GroebenStiftung und der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft.
Das Gespräch mit Dr. Giffey führten wir im Rahmen des Auftakts der Transferagenturen für Großstädte. Die Dokumentation der Veranstaltung mit Filminterview von Franziska Giffey gibt es hier.
Das Interview ist zuerst erschienen in "bewegt – Magazin für kommunale Bildungslandschaften" 1/2015, das Sie hier kostenfrei als Printausgabe bestellen können.