"Dicke Bretter kann man nur gemeinsam bohren."

Interview mit Wolfgang Brehmer, Referat für Bildung und Sport der Landeshauptstadt München

Weshalb war es für München sinnvoll, ein Bildungsmanagement aufzubauen?

Bildung ist ein zentrales Handlungsfeld für die Stadtentwicklung. Es gibt auf diesem Feld sehr viele Akteure – staatliche, städtische, freie Träger usw. – und es ist nicht so, dass diese Gruppen reibungslos zusammenarbeiten. Es bedarf einer gewissen Koordinierung, und es braucht jemanden, der Commitment erzeugt. Da hat es sich bewährt, eine Entwicklungs- und Koordinierungsstelle einzurichten, und in München nennen wir die „Kommunales Bildungsmanagement“.

Was funktioniert heute, was früher nicht funktioniert hat?

Die Abstimmung. Am besten wird das an konkreten Beispielen sichtbar. Nehmen wir mal die Münchner Förderformel , ein ganz wichtiges Instrument zur Förderung von Kindern gerade – im Vorschulalter. Da haben wir es geschafft, über die Koordinierung aller Akteure – seien es freie Träger, städtischer Betrieb, Ministerien oder andere staatliche Stellen – die Zusammenarbeit zu verbessern und über Stadtratsentscheidungen tatsächlich eine bessere Förderung der Münchner Kinder zu erreichen. Denn das ist ja, was uns alle letztlich antreibt und worum es uns geht: dass die Münchner Kinder und Jugendlichen entlang des Lebenslaufs die bestmögliche individuelle Förderung erfahren. Dazu dient die bessere Vernetzung, Abstimmung und Koordinierung aller Angebote. Letztlich hat uns auch das Bundesprogramm „Lernen vor Ort“ (LvO) darin bestärkt. Da konnten wir uns mit insgesamt 35 anderen deutschen Kommunen über fünf Jahre hinweg gemeinsam diesem Thema widmen und viel voneinander lernen.

Woran sehen Sie, dass sich schon etwas getan hat?

Ein gutes Beispiel ist der Elementarbereich. Da ist nicht nur die Zusammenarbeit, sondern auch die Wirkung auf die Einrichtungen und auf die Kinder deutlich erkennbar. Durch passgenaue zusätzliche Ressourcen geht z.B. der Krankenstand unter den Mitarbeiterinnen zurück, die Sprachkenntnisse der Kinder verbessern sich. Aber auch im Übergang Schule/Beruf, wo es ja lange eher ein unkoordiniertes Nebeneinander vieler Aktivitäten gab, ist es uns gelungen, die vielen Akteure stärker zusammenzubringen: z.B. die Bundesagentur für Arbeit, die städtischen Referate, die Kammern und die Verbände. Eine Folge davon ist jetzt u.a. die vom Stadtrat einstimmig beschlossene Einrichtung des „JIBB – Jugend in Beruf und Bildung“. Ähnlich wie Hamburg mit der Jugendberufsagentur haben wir da alle Angebote für Jugendliche unter 25 unter ein Dach gebracht. Alle, die hier arbeiten, versuchen, gut abgestimmte Maßnahmen und Unterstützungsleistungen zu erbringen.

Wie sind Sie da hingekommen, wo Sie heute stehen?

Ausschlaggebend war der Münchner Bildungsbericht von 2006. München war Pionier in Deutschland: die erste Großstadt, die einen kommunalen Bildungsbericht vorgelegt hat. Aus diesem Bildungsbericht haben sich konkrete Handlungsbedarfe ergeben: z.B. die regionalen Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtteilen in Bezug auf Bildungsbeteiligung, oder auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Bildungsstufen. Daraus haben wir ein ganzes Programm entwickelt, das wir „Leitlinie Bildung“ nennen. Diese wiederum ist Teil des Stadtentwicklungskonzepts „Perspektive München“ – der Münchner Stadtrat hat das Thema Bildung also hochstrategisch verankert. Unter diesem Dach war es dann leichter möglich, alle möglichen einzelnen Maßnahmen und Projekte mit den Akteuren zu entwickeln und dann auch dauerhaft abzusichern. Der Mehrwert für alle ist mit Händen zu greifen: Kooperation ist auf dem Feld der Bildung das Erfolgsrezept schlechthin, weil hier so viele unterschiedliche Akteure tätig sind, die alle mit denselben Kindern und Jugendlichen arbeiten.

Und was das Selbstverständnis der Kommune angeht: Darüber nachzudenken, dass Bildung vor Ort gelingt – oder misslingt – ist eine weltweite Entwicklung. In Skandinavien hat man das System schon vor Jahrzehnten umgestellt in Richtung einer stärkeren Verantwortung der Kommunen. Momentan lässt sich beobachten, wie diese Entwicklung nun auch in Deutschland voranschreitet. Ein Meilenstein war hier die „Aachener Erklärung“ von 2007.  Damals haben über 1000 Verantwortliche aus den Kommunen mehr Verantwortung für Bildung eingefordert und eine entsprechende Erklärung unterzeichnet. In diesem Geist sind wir seitdem unterwegs.

Wenn andere Kommunen Sie um Rat fragen – welche Tipps geben Sie dann?

Wichtig ist die Datenbasierung  – das ist eine neue Qualität, die früher so nicht vorhanden war. Ich brauche eine klare Datengrundlage, also Bildungsmonitoring. Auf dieser Basis kann ich dann Vorschläge sehr viel besser begründen. Ich rate auch dazu, immer auf breite Beteiligung zu achten, also alle Akteure einzubeziehen und – wenn es irgendwie geht – politisch breit getragene Entscheidungen herbeizuführen. In München waren alle wesentlichen Entscheidungen der letzten zehn Jahre auf diesem Gebiet einstimmig, parteiübergreifend in den zuständigen Ausschüssen. Ansonsten ist mein Rat: Wirklich immer auf die sogenannten Verantwortungsgemeinschaften zu setzen und zu versuchen, alle Akteure ins Boot zu holen und für die nötige Akzeptanz zu sorgen. Auch wenn das mühsam ist – dicke Bretter kann man nur gemeinsam bohren.

Lesen Sie zu diesem Thema auch den Artikel "Zahlen lügen nicht" in unserem Magazin für kommunale Bildungslandschaften "bewegt".

Sie sprechen gern davon, dass man: „Dinge zum Anfassen“ braucht. Was meinen Sie damit?

Zum Beispiel genügt es für gutes Bildungsmonitoring nicht, nur auf der strukturellen Ebene unterwegs zu sein und abstrakte Papiere zu produzieren. Es müssen anfassbare Produkte dabei herauskommen – z.B. ein gut lesbarer Bildungsbericht. Oder schnell wirksame Verbesserungen, z.B. so etwas wie unsere gemeinsam getragenen Lernwerkstätten am Übergang Kindergarten/Grundschule. In München haben wir mit Hilfe der Universität in relativ kurzer Zeit an zehn Standorten gute Beispiele zustande gebracht, die dann auch dauerhaft verankert wurden. Mit so einem Beispiel kann man das abstrakte Thema Übergang Kindergarten/Grundschule sehr konkret machen. Als Beispiel für den Übergang Schule/Beruf fallen mir z.B. die Lern- und Erlebniscamps ein, die wir aus den IHK-Sommercamps entwickelt haben, mittlerweile organisiert vom Kreisjugendring, in städtischen Schullandheimen. Inzwischen sind wir soweit, dass alle Schüler der achten Klasse Mittelschule an einem solchen Camp teilnehmen können. Das ist eine sehr gut wirkende zusätzliche Förderung in einer entscheidenden Phase der Berufsorientierung.

Thema Bedarfsorientierung: Kann Verteilung gerecht sein, wenn sie ungleich ist?

Kann Verteilung gerecht sein, wenn sie mit der Gießkanne erfolgt? Ungleiches gleich zu behandeln, das ist ungerecht. Das Motiv müsste im Grunde ja sein, zu einer neuen Verteilungsgerechtigkeit zu finden – also weg von der Gießkanne und hin zu einer bedarfsgerechten Unterstützung. Das ist ein weltweiter Trend, Deutschland hat da eher Nachholbedarf. In den skandinavischen Ländern oder in den Niederlanden erhalten Einrichtungen in Stadtvierteln mit erschwerten Ausgangslagen zusätzliche Unterstützung in Form von Ressourcen. Diesen Weg haben wir nun in München ebenfalls seit einigen Jahren konsequent beschritten – und mit gutem Erfolg. Zu nennen sind hier auch die Bildungslokale, die lokales Bildungsmanagement und niederschwellige lokale Bildungsberatung anbieten. Wir haben bereits erste Wirkungsmessungen, die uns bestätigen, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind. Aber das ist noch ein weiter Weg – Wirkungen im Bildungsbereich zeigen sich erst langfristig. Ich bin sehr zuversichtlich, dass das langfristig Früchte tragen wird.

Die „Münchner Förderformel“ ist bundesweit ein Begriff. Sie sind derzeit dabei, dieses an Kitas erprobte Konzept auf allgemeinbildende Schulen zu transferieren. Wo liegen in diesem Prozess die Stolpersteine?

Da kommen wir wieder auf ein Kernproblem zu sprechen, auf die unterschiedlichen Akteure und Professionen. Diese Systeme passen nicht automatisch zusammen. Es muss aber das Interesse einer Kommune sein, einen einmal eingeschlagenen Weg – also z.B. im Vorschulbereich – im nächsten System auch fortzusetzen. Natürlich angepasst an die Besonderheiten des anderen Systems. Da liegt dann die Herausforderung: Im vorschulischen Bereich haben wir von der Stadt zu steuernde Einrichtungen, seien es freie Träger oder städtische Einrichtungen. Im Grundschulbereich ist der Freistaat Bayern zuständig für die inneren Angelegenheiten. Hier geht es in besonderer Weise darum, zu Kooperationen zu kommen. Auch hier sind wir in bewährter Weise unterwegs, mit sogenannten Pilotschulen, die vom Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) gemeinsam evaluiert werden. Das war ein gewaltiger Schritt. Aus den Erfahrungen mit diesen Pilotschulen werden wir dann hoffentlich in die Fläche kommen – ähnlich wie das auch bei der Förderformel gelungen ist.

Wie schaffen Sie das?

Erfreulich ist, dass der Freistaat mitgeht. Mit dem sogenannten Integrationszuschlag an staatlichen Grund- und Mittelschulen hat er uns eine Tür geöffnet, die bisher verschlossen war: Damit wurde die Notwendigkeit der differenzierten Budgetierung quasi noch einmal bestätigt. Diesen Weg wollen wir auch in Bezug auf die anderen Bildungsstufen konsequent weitergehen. Eine besondere Herausforderung wird das im Bereich der Berufsschulen. Unser Bericht zur beruflichen Bildung von 2014 stellt fest, dass hier enorme Unterschiede zwischen den Schulen bestehen. Wir haben zum Teil Berufsschulen mit hohen Abbrecherquoten, was natürlich auch mit der Herkunft der Schülerinnen und Schüler zu tun hat. Auch hier müsste ein bedarfsorientiertes Budgetierungskonzept verankert werden. Wir hoffen, dass der Stadtrat da entsprechende Beschlüsse fassen wird.
Sie sehen: Das gesamte System ist gewaltig in Bewegung. Auch im Weiterbildungssektor machen wir diese Erfahrung: Die Volkshochschule geht in ihren Planungen stärker sozialräumlich vor. Sie machen nicht mehr in jedem Stadtviertel die gleichen Angebote, sondern z.B. im Münchner Norden längst schon zusätzliche Förderangebote, die auf die spezifischen Bedürfnisse entsprechend reagieren. Wir stellen fest, dass dieses Prinzip der stärker sozialräumlich ausgerichteten Steuerung von Budget und Ausstattung sich auf sehr viele Bereiche übertragen lässt.

Kommunale Schulen als Pilotprojekte: Sind all ihre Pilotprojekte an kommunalen Schulen angesiedelt?

Nein. Natürlich haben wir an den kommunalen Schulen die meisten Möglichkeiten. Aber das Erfreuliche ist, dass es uns gerade im allgemeinbildenden Schulbereich gelungen ist, den Freistaat mit ins Boot zu holen und hier in einem Pilotprojekt zwölf Schulen – sechs staatliche Grundschulen, zwei staatliche Mittelschulen, zwei städtische Realschulen und zwei städtische Gymnasien in einen gemeinsamen Entwicklungszusammenhang zu bringen, und auch in einen gemeinsamen Evaluationszusammenhang. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir aus den Evaluationsergebnissen dann auch gemeinsame weitere Schritte ableiten werden. Und die können ja nur in eine Richtung gehen: Die individuelle Förderung noch besser maßzuschneidern. Das Problem ist ja, dass die Strukturen noch zu grob sind, die müssen wir noch verfeinern, je nach Stadtteil und nach Zielgruppe, auf die man trifft. Jetzt gerade, vor dem Hintergrund der Flüchtlingswelle, spitzt sich das noch zu. Ohnehin: Angesichts der aktuellen Herausforderungen, die immer größer werden – Stichwort Integration von Flüchtlingen durch Bildung – werden alle diese Modelle und Handlungsansätze noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Aber ich bin überzeugt, dass sie sich bewähren werden, weil sie alle bereits in diese Richtung zielen: Heterogenität bedarfsgerecht zu beantworten und mit entsprechenden Maßnahmen darauf zu reagieren.

Beobachten Sie in der Politik einen Haltungswandel, was Bildung angeht?

Bildung ist heute ein viel größeres Thema als noch vor zehn Jahren, das kann man auf jeden Fall sagen. Wir haben es da mit Themenkonjunkturen zu tun. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre gab es schon einmal eine ganz intensive Bildungsdiskussion. Der Deutsche Bildungsrat hat damals wegweisende Vorschläge erarbeitet. Dann ist das Thema wieder nach hinten gewandert. Und erst durch PISA wurde eine gewaltige Bewegung ausgelöst: Die Erkenntnis, dass die Schülerleistungen in Deutschland nur im Mittelfeld liegen, aber vor allem der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsergebnissen hat auch auf kommunaler Ebene viel Diskussion und verstärkte Anstrengungen ausgelöst. Ich kenne heute keine Stadt mehr, die sich mit dem Thema Bildung nicht beschäftigt. Die Frage ist ja nur: Wie intensiv und wie effektiv ist diese Beschäftigung? Und da sind wir wieder am Anfang: Kommunales Bildungsmanagement und Bildungsmonitoring sind einfach Schlüsselelemente und Erfolgsfaktoren, die dazu beitragen, diese Diskussion nachhaltig und tragfähig zu gestalten. Gerade Bildung benötigt langfristige Perspektiven und Strategien und einen langen Atem.

Bekommen die Kommunen die Unterstützung, die sie brauchen?

Man kann dem BMBF nur danken, dass es mit „LvO“ starke Impulse gesetzt hat, die die Bildungsentwicklung vor Ort fördern. Ich habe den Eindruck, dass das weitergeht mit der Förderung der Koordinierung von Bildung für Flüchtlinge. Das ist der nächste Schwerpunkt, den das BMBF setzt – diese Rolle der Kommune wird zunehmend gesehen und auch mit Ressourcen unterstützt. Auf Landesebene sind wir eher noch bei etwas schwierigeren Diskussionen. Aber auch in Bayern gibt es inzwischen die Initiative Bildungsregionen, mit der die Bildungsverantwortung vor Ort gestärkt werden soll, leider bisher ohne zusätzliche Ressourcen für die Kommunen. Fest steht nur, dass auf keinen Fall Zentralisierung sinnvoll ist. Das Beispiel Frankreich ist da, denke ich, für alle abschreckend: Paris ist für zwei Millionen Lehrer zuständig, das darf auf keinen Fall Vorbild sein. Wie weit runter man jetzt geht und dezentralisiert, muss man sich sicher gut überlegen. Aber von der Tendenz her kann man sagen: so viel wie nur möglich vor Ort erledigen lassen. Dort ist das Know-How, dort ist man wirklich an langfristigen Lösungen interessiert und dort lässt sich auch das Thema Bildungsarmut am besten bekämpfen. Und damit lässt sich für das Land letztlich ein Fortschritt erzielen. Wenn wir uns international umschauen, stellen wir fest: In Asien – ob in China, Japan oder Südkorea – gehen die Entwicklungen auch stark in diese Richtung. „Learning Cities“, der erste UNESCO-Kongress zu diesem Thema fand vor zwei Jahren in Peking statt. Es gibt mittlerweile ein weltweites Netzwerk der „Learning Cities“. Insofern tut Deutschland gut daran, sich hier an die Spitze zu stellen und nicht zu warten, bis die Entwicklung uns überrollt.

Warum beteiligen Sie sich am Großstadtnetzwerk der Transferagenturen?

Wir waren bei „LvO“ von Anfang an dabei und haben schnell gespürt: Das Lernen ist immer gegenseitig. Wir geben hier gerade Impulse, aber gleichzeitig bekommen wir sehr viel zurück durch die Nachfragen aus anderen Städten. Das können wir wiederum nutzen für die Weiterentwicklung bei uns. Wir sehen Beispiele und kommen auf neue Ideen – man muss ja nicht immer das Rad neu erfinden. Ich denke, dass darin ohnehin die Zukunft liegt: Im permanenten Austausch. Der sollte auch auf Dauer vom BMBF gefördert werden. Das Großstadtnetzwerk der Transferagenturen für Großstädte ist ein ganz wichtiger Schritt in diese Richtung. Der Deutsche und der Bayerische Städtetag sind ebenfalls sehr engagiert, aber Austausch der großen Städte ganz konkret zum Thema Bildungsmanagement und -monitoring und das in einem vertrauensvollen und professionellen Rahmen – das hat bislang gefehlt.

Das Interview führten wir auf beim Auftakt der Fachgruppen "Kommunales Bildungsmanagement" und "Kommunales Bildungsmonitoring" im Großstadtnetzwerk der Transferagenturen für Großstädte . Die Dokumentation der Veranstaltung finden Sie hier.