„Es gibt keine Schablone, wie man es am besten macht“

Dr. Hubertina Falkenhagen
Dr. Hubertina Falkenhagen berichtet, wie die Essener Stadtverwaltung auf Augenhöhe kooperiert, um die psychosoziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Corona-Zeiten zu fördern.
29.06.2021

Wenn man fragt, wer in der Verwaltung eigentlich dafür zuständig ist, das psychosoziale Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen zu stärken, fällt die Antwort der Stadt Essen einfach aus: viele. Weil das Thema vor allem in diesen Zeiten ein wichtiges ist, haben wir Dr. Hubertina Falkenhagen, Leiterin der Regionalen Schulberatungsstelle der Stadt Essen, gefragt, wie die Stadtverwaltung zusammenarbeitet, um jungen Menschen gut durch die Krise zu helfen.

Frau Dr. Falkenhagen, was war der Ausgangspunkt, der zur fachbereichsübergreifenden Zusammenarbeit der Essener Stadtverwaltung geführt hat? 
 
Im Frühling dieses Jahres haben wir verschiedene Beobachtungen zu den Folgen der Kontakteinschränkungen bei Kindern und Jugendlichen unserer Stadt aufgenommen. Zum Beispiel wurde uns aus den Stadtteilen von den Mitarbeitenden aus Kitas, Schulen und Kinderarztpraxen zurückgemeldet, dass neben den vielfältigen psychosozialen Folgen auch ein gravierender Bewegungsmangel in der Pandemie zu bemerken sei, der ebenfalls die physische und psychische Gesundheit gefährde.
 
Nachdem sich solche Rückmeldungen häuften, haben die Geschäftsbereichsvorstände, die das Thema beschäftigt, noch vor Ostern ein Treffen aller relevanten Akteur:innen einberufen. Stadtintern nahmen Jugendamt, Gesundheitsamt, Fachbereich Schule, Jobcenter und das kommunale Integrationszentrum teil. Weitere Vertretende des Sozialraums waren die freien Träger und Wohlfahrtsverbände. Ziel dieses Auftakts war es gemeinsam zusammenzutragen, welche Folgen wir in der Stadt bei den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sehen. Und wie wir diesen als Stadt begegnen können. 
 
Unter der Federführung des Jugendamts bildeten wir dann eine agile fachbereichsübergreifende Arbeitsgruppe, die in eine umfangreiche Matrix hineinarbeitete. Das hat zum einen geholfen, um zu schauen: Wo können wir ansetzen bei dem, was es an Strukturen und Projekten schon gibt? Und wo braucht es möglicherweise zusätzliche Ressourcen? Die Ergebnisse aus den Fachbereichen wurden dann in der großen Runde wiederum zusammengetragen und geclustert. 
 
Gab es schon Strukturen, auf die Sie zurückgreifen konnten?
 
Vor meinem Einstieg im Rahmen der Flüchtlingskrise 2015 gab es eine ähnliche Initiative, sich gemeinsam aufzustellen und Ressourcen zu bündeln, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Diesmal ging es eben um die vulnerablen Zielgruppen, also diejenigen, die schon vorher benachteiligt waren, weil sie z.B. alleinerziehend sind oder eine Zuwanderungsgeschichte haben. 
 
Welche Handlungsbedarfe haben Sie identifiziert? Und wie ging es dann weiter?
 
Wir haben uns auf diese Schwerpunkte geeinigt:
  • gut und breit informieren zum Thema Corona und Impfen, z.B. über informelle Kanäle
  • schnelle Hilfe leisten für Familien in existenzieller Notlage 
  • Kontakte zu Bürger:innen schaffen, die sozial isoliert sind
  • den Umgang mit psychischen Belastungen in den Familien stärken
  • Bewegung fördern
  • Sprachentwicklung fördern
  • Lernförderung ausweiten
  • Perspektiven und berufliche Orientierung junger Menschen unterstützen
 
Aktuell sind wir in der Planungsphase, indem wir Antworten auf diese Fragen finden: Wie können wir Maßnahmen mit den vorhandenen Ressourcen gut und zeitnah umsetzen? Wie können wir bestehende Kooperationen nutzen, um das realisieren zu können und auch in größerem Umfang? Ich kann das anhand des oben genannten Beispiels skizzieren, wo es um die gesundheitlichen und psychosozialen Folgen ging: Hier haben wir eine sportpädagogische Fachkraft innerhalb des Bildungsbüros. Diese kann aber nicht an allen Schulen und Kitas gleichzeitig beraten. Deshalb haben wir Grund- und weiterführende Schulen eingeladen zu einem Online-Austausch – organisiert vom Bildungsbüro, der Schulberatungsstelle und der Schulaufsicht für rechtliche Fragen. Die Schulen waren aufgefordert, eigene Bewegungsangebote vorzustellen. Und da gab es viele Beispiele, was man tun kann, um Bewegung zu fördern und zum Beispiel welche Kooperationsmöglichkeiten es gibt. Letztlich führte der Austausch sogar zu einer stärkeren Vernetzung der Schulen untereinander auf der Basis dieses bestimmten Themas.
 
Oder ein anderes Beispiel: Die diversen Beratungsstellen haben beobachtet, dass es diesen oder jenen Bedarf gibt, aber die Angebote nicht dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Daher haben wir überlegt, dass es sinnvoll wäre, Kinder, Jugendliche und Familien dort zu beraten, wo sie sich aufhalten: in den Kitas und Schulen. Die Idee war, an die Regelstrukturen anzudocken und eine Sprechstunde vor Ort anzubieten, um die Schwelle so niedrig zu gestalten wie möglich.
 
Gibt es auch Mittel, um neue Projekte zu starten oder bestehende auszurollen?
 
Die finanzielle Planung auf kommunaler Ebene ist ein weiterer wichtiger Schritt. Im Anschluss an die kreative Suche nach Lösungen muss geschaut werden, was realisierbar ist. Da geht es dann um personelle Ressourcen aber auch teilweise um Sachmittel. 
Dr. Hubertina Falkenhagen

Allen jungen Menschen die Chance zu geben, sich als selbstwirksam zu erleben, dafür müssen wir uns Zeit nehmen. Zeit zu fragen: Was brauche ich zum Lernen? Was habe ich in dieser Ausnahmezeit darüber erfahren? Und wie kann ich dieses Wissen für die Zukunft anwenden?

Dr. Hubertina Falkenhagen, Leiterin der Regionalen Schulberatungsstelle der Stadt Essen
Gibt es in so einem Einigungsprozess auch Herausforderungen?
 
Jeder steht natürlich für seine eigene Institution. Wenn man beispielsweise die Versorgung im Bereich der psychischen Belastungen anschaut, dann haben alle Akteur:innen – Pädagog:innen, Ärtz:innen, Berater:innen, Therapeut:innen – einen Blick darauf, wer wie unterstützt werden soll und über welche Stellen. Sich hier an den bestehenden Versorgungsstrukturen zu orientieren und gemeinsam zu schauen, was darüber hinaus gebraucht wird, ist sehr hilfreich. 
 
Was würden Sie anderen Kommunen mit auf den Weg geben, die Ähnliches vorhaben? 
 
Wenn Forderungen aus der Kommune kommen und wir als Stadtverwaltung feststellen, dass wir nicht genügend Ressourcen haben, ist es wertvoll, den Prozess zu begleiten und zu überlegen, was wir bereits für Good-Practice-Modelle haben. Es reicht oft schon, einen Rahmen für einen Entwicklungsprozess anzubieten. Das befördert auch die Partizipation und Passung der Angebote. Und nicht zu denken, ich muss etwas Fertiges präsentieren. Es können auch kleinere Angebote sein.
 
Außerdem müssen solche Vorhaben auf breiten Füßen stehen. Für Akzeptanz zu sorgen, ist daher unabdingbar.
 
Und die kleine agile fachbereichsübergreifende Arbeitsgruppe hat sich als sehr sinnvoll herausgestellt. Hier ist es wichtig, Augenhöhe herzustellen. Bei uns war von Anfang an klar: Die Jugendamtsleitung hat die Federführung, aber in der Gruppe kann jeder und jede zu einem bestimmten inhaltlichen Thema einladen und mitdiskutieren. 
 
Funktionierte das schon von Anfang an?
 
Das hängt von der einladenden Person ab, wie diese das formuliert. Dann ist das für alle Beteiligten klar.
 
Zum Abschluss würden wir gern von Ihnen erfahren, wie Sie die aktuelle Diskussion um die sogenannte Lost Generation erleben. Wird ein Großteil der Kinder und Jugendlichen aus Ihrer Sicht abgehängt sein?
 
Tatsächlich ist der Eindruck entstanden, dass diese Zielgruppe von der Bundespolitik lange nicht genug berücksichtigt wurde. Auf der einen Seite haben wir die Situation, dass die Kinder und Jugendlichen, die es vorher schon schwer hatten, nun noch schwerer haben. Auf der anderen Seite sehe ich als Psychologin auch die Resilienzkraft. Kinder und Jugendliche können sehr anpassungsfähig sein. Das sehe ich schon allein an diesen ersten Tagen, an denen die Schule wieder geöffnet ist: Die Schülerinnen und Schüler blühen auf, wenn sie wieder mit Gleichaltrigen zusammen sind.