Bildungsberichterstattung macht Defizite im Bildungssystem transparent

Interview mit Ingeborg Groebel, Leiterin des Büros für Kommunale Bildungsprojekte der Landeshauptstadt Wiesbaden
24.06.2020

Frau Groebel, herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung des ersten Bildungsberichts der Landeshauptstadt Wiesbaden. Aufgrund der Corona-Pandemie konnte der Bericht nicht über die bekannten Wege und Kanäle öffentlichkeitswirksam präsentiert werden. Trotzdem haben Sie sich dazu entschieden ihn zu veröffentlichen. Welche Veröffentlichungsstrategie haben Sie verfolgt und welche Möglichkeiten sehen Sie aktuell, um mit einer breiten Öffentlichkeit, aber auch mit einem Fachpublikum in den inhaltlichen Diskurs zu gehen und die im Bildungsbericht aufgeführten Herausforderungen weiter zu verfolgen?

Ingeborg Groebel, Landeshauptstadt WiesbadenWir haben versucht, die sonst üblichen Formen, wie die Pressekonferenz und die Vorstellung in Fachgremien, in digitale Formate zu übersetzen. Daraus entstand ein kleines Paket auf unserer Homepage, bestehend aus dem Bildungsbericht selbst, einer je einseitigen Zusammenfassung der einzelnen Kapitel, „Bildungsbericht kompakt“, einem Videostatement des Sozial- und Bildungsdezernenten sowie einer Folienpräsentation mit Tonspur. Damit wollten wir Öffentlichkeit und Fachpublikum die Möglichkeit geben, sich zeitnah nach Beschlussfassung im Magistrat über den neuen Bericht zu informieren.

Selbstverständlich werden wir die anderen zum Kommunikationskonzept gehörenden Bestandteile nachholen, sobald dies in vernünftigem Rahmen möglich ist:

  • Vorstellung im Fachbeirat Bildung integriert… Wiesbaden
  • Runder Tisch: Zu einzelnen Kapiteln oder auch Sachverhalten werden Fachakteure zum Austausch im kleinen Kreis eingeladen.
  • Präsentation im Rahmen unserer Themenreihe Bildung schafft Zukunft


Zu letzterem könnte es einen Vortrag des Soziologen Aladin El-Mafaalani geben. Die Thesen seines neuen Buchs „Mythos Bildung“ stimmen mit vielen Befunden des Wiesbadener Bildungsberichts 2019 überein.

Aktuell denken wir darüber nach, demnächst zu einer Sitzung des Fachbeirats Bildung integriert Wiesbaden einzuladen. Noch sind wir unsicher, ob dies in Form eines Präsenztermins oder als Videokonferenz stattfinden sollte. Im Fachbeirat sind rund 30 Bildungsakteurinnen und -akteure vertreten. Die Konzerthalle des „Schlachthofs“ steht aktuell leer und könnte dafür genutzt werden. Die Halle verfügt über die notwendige Technik und ist gemäß der Abstands- und Hygieneregeln möbliert. Die etwas andere Atmosphäre muss kein Nachteil sein – sie könnte sich als förderlich für neue Ideen erweisen. Für eine Konferenz im digitalen Format könnte sprechen, dass nach wie vor Angst vor Ansteckung besteht.

Es gibt aber bereits jetzt die Möglichkeit, sich mit Rückfragen und Feedback beim Bildungsmanagement der Stadt zu melden.


Der Bildungsbericht greift das Themenfeld Bildungsteilhabe und Bildungsbenachteiligung auf. Aktueller könnte die Thematik nicht sein, denn Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus sind aufgrund der Corona-Pandemie gleich mehrfach beeinträchtigt. Wie kann Bildungsmonitoring zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen bzw. Bildungsungleichheiten aufdecken?

Tatsächlich haben wir kurz vor Drucklegung im April darüber nachgedacht, zumindest im Vorwort die Impacts der Krise, wie sie damals bereits sichtbar wurden, aufzunehmen. Da dies jedoch noch recht „unverdaut“ dahergekommen wäre und über Allgemeinplätze nicht hinausgegangen wäre, haben wir darauf verzichtet.

Aber: Ohne explizit auf die Corona-bedingte Verschärfung von Bildungsungleichheiten Bezug zu nehmen, macht der Bericht deutlich, wie über den gesamten Lebenslauf hinweg das Bildungssystem selbst soziale Ungleichheit reproduziert und verstärkt. Der Bildungsbericht 2019, wie auch die übrigen Elemente der Bildungsberichterstattung, tragen dazu bei, diese Ungleichheiten, ihre Wurzeln und ihre Auswirkungen aufzudecken. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, in der Kommune politische Mehrheiten zu schmieden, um dagegen anzugehen. In der Hoffnung, dass im Bereich Bildung keine Kürzungen vorgenommen, sondern im Gegenteil die Bemühungen um „Nachteilsausgleich“ gestärkt werden.  


Glauben Sie, dass sich infolge der Corona-Pandemie die Benachteiligungen weiter verschärfen werden?

Kurzfristig auf jeden Fall! Denn so wie die Schulferien – ganz ohne Corona – den Abstand zwischen den Schülerinnen und Schülern vergrößern, so wirken sich die langen Wochen des Homeschoolings auf Lernmotivation, Lernfähigkeiten und Lernstände der Kinder aus. Der Rückstand der Kinder, deren Zuhause keine förderliche Lernumgebung bietet, ist groß, größer als bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, die über gute technische Voraussetzungen (mobiles Endgerät) verfügen und deren Eltern bei den Aufgaben unterstützen können. Ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit, sich auf Aufgaben und Lernstoff zu konzentrieren, wenn gleichzeitig der Magen knurrt.   

Im April machte der Bildungsforscher Klaus Klemm gemeinsam mit über 40 weiteren namhaften Bildungsexpertinnen und -experten per Schreiben an die KMK den Vorschlag, in die wiedereröffneten Schulen zuerst diejenigen Kinder und Jugendliche zu lassen, die aus benachteiligten Verhältnissen stammen. Die Chance, auf diesem Weg den Abstand zu verkürzen, wurde nicht ergriffen, was wir hier in Wiesbaden sehr bedauern.

In der öffentlichen Debatte tauchten verschiedene Ideen auf, wie es gelingen kann, den Lernstoff des aktuellen Schuljahres noch einzuarbeiten. Ein Vorschlag lautete, die Sommerferien zu verkürzen. Aus verschiedenen Gründen traf dieser Vorschlag auf wenig Gegenliebe. Indirekt haben beide Ansätze Niederschlag gefunden in einem Projekt des Hessischen Kultusministeriums: Schülerinnen und Schüler an Haupt- und Realschulen erhalten die Möglichkeit, bisher nicht bewältigten Lernstoff in sogenannten schulbezogenen Sommerferiencamps nachzuholen, um so fit für die nächste Klasse zu sein. Was sich im ersten Moment nach einer tollen Sache anhört, hat einen Haken: Es ist nicht damit getan, für quasi fertig organisierte Camps die entsprechenden Schülerinnen und Schüler zu benennen, denen zusätzliche Förderung gut tun würde. Es sind vielmehr die Schulen selbst, die die Camps organisieren müssten, mit allem, was dazugehört: Verpflichtung von Honorarkräften, Regelungen über Nutzung der Schulräumlichkeiten in Ferienzeiten, Angebot eines gesunden Frühstücks und Mittagessens, mögliche Freizeitangebote am Nachmittag für eine möglichst abwechslungsreiche Gestaltung u. ä. Inwieweit die Schulen in der jetzigen Situation in der Lage sind, in relativ kurzer Zeit solche Camps zu organisieren, ist ungewiss. Bisher wurde unseres Wissens nach seitens der Wiesbadener Real- und Hauptschulen kein entsprechender Antrag eingereicht.

Die Stadt als Schul- sowie als Jugendhilfeträger steht bereit, um die Schulen hierin zu unterstützen. Die Hauptlast jedoch liegt bei den Schulen, die ohnehin seit Wochen stark gefordert sind – aufgrund der Anforderungen des über Nacht notwendig gewordenen Homeschoolings sowie der Organisation des Unterrichts mit Abstands- und Hygieneregeln. Hier macht es sich das zuständige Ministerium aus unserer Sicht etwas zu einfach.

Mittel- und langfristig gesehen könnte die Krise zu einer Rückbesinnung auf die große Bedeutung eines öffentlich geförderten, am Ideal des gemeinsamen Unterrichts aller Kinder und Jugendlichen ausgerichteten Schulwesens führen. Aus der Not erwachsen unter Umständen neue Chancen: Die unter dem Druck der Krise verstärkt in Angriff genommene Digitalisierung könnte sich förderlich für benachteiligte Schülerinnen und Schüler auswirken, vorausgesetzt die Rahmenbedingungen stimmen: Ausstattung mit geeigneten Geräten, ganzheitliche Digitalisierungskonzepte. Die technische Entwicklung kann schließlich auch zur Verwischung alter Trennlinien führen: Ein mobiles Endgerät im Rahmen von Hybridunterricht ist Teil der Ausstattung einer Schule als auch Lernmittel – damit wäre es gleichermaßen Aufgabe des Schulträgers und der Kultusbehörden, dieses für alle Schülerinnen und Schüler bereitzustellen.

Foto: ©Barbara Yurtöven, Wiesbaden.