Dass sich die emotionale Stabilität von Kindern und Jugendlichen wiederum positiv auf die schulischen Leistungen auswirkt, zu diesem Schluss kommt eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft „Lernmotivation und Freude an der Schule“. Und auch andersherum argumentiert Silvia Schneider, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, in einem Interview mit dem BMBF: „Wir müssen uns klarmachen, dass Bildung und psychische Gesundheit eng miteinander zusammenhängen. Wir wissen, dass ein mangelhafter oder fehlender Bildungsabschluss ein Risikofaktor für psychische Störungen ist. Es ist wichtig, dass wir das Thema der psychischen Gesundheit sehr viel stärker in den Fokus nehmen”.
Psychosoziale Folgen der Pandemie in Zahlen
85 Prozent der Kinder und Jugendlichen fühlen sich durch die Corona-Pandemie belastet und 7 von 10 Heranwachsenden empfinden ihre Lebensqualität als gemindert. Zu diesem Ergebnis kommt die so genannte
COPSY-Studie II („Corona Schuljahre – und wie weiter? Eine Auseinandersetzung mit den aktuellen Debatten zur Schließung der Lernlücken infolge der Corona-Schuljahre 2019/20 und 2020/21“) des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Ähnliche Befunde liefert die Befragung 15- bis 30-Jähriger im Rahmen der Studie
„Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pandemie“ (JuCo): Mehr als die Hälfte gaben an, teilweise bis deutlich psychisch belastet zu sein. Dabei fühle sich ein Großteil der Kinder und Jugendlichen durch die Kontaktbeschränkungen belastet (71 Prozent), erlebe Schule und Lernen anstrengender als zuvor (65 Prozent) und nehme wahr, dass sich das Verhältnis zu Freund:innen verschlechtert habe (39 Prozent).
Vor allem die Schließung von Kitas, Schulen, Sportvereinen, Jugendclubs schränkte Kinder und Jugendliche in ihrem Spiel- und Sozialleben massiv ein. Auch hier zeigen die Ergebnisse der JuCo-Studie, dass die Nutzung von Sport- und Bewegungsangeboten während der Pandemie stark zurückgegangen ist (von knapp 30 Prozent auf aktuell 8 Prozent), während sich der Besuch von Einrichtungen der offenen Jugendarbeit im Verlauf um die Hälfte reduziert hat (
JuCo). Der Alltag Heranwachsender verlagerte sich zu großen Teilen in die Familie und diese familiäre „Verinselung“ (
Reichert/Berner in einem Artikel für den Medizinreport von aerzteblatt.de) schränke den Freiraum ein, solche Einschränkungen auszugleichen. Während ein Teil der Kinder und Jugendlichen die Belastung zusammen mit ihren Eltern gut managten und psychisch erstaunlich gesund durch die Krise kämen, zum Teil sogar positive Auswirkungen der Krise wahrnehmen, kämpfe eine Vielzahl der Heranwachsenden mit psychischen Belastungen, so Silvia Schneider im
BMBF-Interview, wie diesen: Ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie leidet fast jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten, wobei das Risiko hierfür seit Beginn der Pandemie von 18 auf 30 Prozent angestiegen ist. Dies beinhaltet einen Anstieg von ausgeprägten Symptomen für generalisierte Ängstlichkeit (von 15 Prozent auf 24 Prozent). Aber auch psychosomatische Beschwerden nahmen laut
COPSY II zu, wie z.B. Gereiztheit (54 aktuell vs. 40 Prozent vor der COVID-19-Krise), Kopfschmerzen (40 vs. 28 Prozent), Niedergeschlagenheit (34 vs. 23 Prozent) und Bauchschmerzen (31 vs. 21 Prozent).
Was bedeutet das für die Zukunft?
Trotz des hohen Anteils an jungen Menschen mit deutlichen Belastungsempfindungen ließe sich über die langfristigen Auswirkungen dieser Einschätzungen aktuell aber noch nichts Zuverlässiges sagen. Zu diesem Schluss kommen die Autor:innen der
8. Stellungnahme der Leopoldina. Auch gebe es bisher keine Anzeichen dafür, dass eine ganze Generation abgehangen sei, so Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Marcel Romanos im
Podcast für spektrum.de. Allerdings zeigt sich, dass die Pandemiefolgen einzelne Gruppen besonders stark treffen. Darunter fallen insbesondere jene Gruppen, die schon vor der Pandemie mit verschiedensten Herausforderungen konfrontiert waren und entsprechend gefördert und unterstützt wurden: Kinder aus armen Familien, Kinder von Alleinerziehenden, Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder mit Behinderungen: „Alle, die es ohnehin schon vor der Pandemie schwer hatten: Die werden jetzt endgültig abgehängt!“ So lautet das Fazit von „Arche“-Gründer Bernd Siggelkow im
Interview mit SZ.de.
Von Armut betroffene Kinder (fast ein Viertel der unter 18-Jährigen) beispielsweise brächten durch beengte Wohnverhältnisse (fast die Hälfte wohnt in einer Wohnung ohne ausreichende Anzahl an Zimmern), fehlendes technisches Equipment (24 Prozent der Kinder im Grundsicherungsbezug haben keinen internetfähigen PC im Haushalt) (
IW 2020 und
Bertelsmann Stiftung 2020), aber auch durch geringere familiäre Unterstützungsressourcen und die erhöhte Belastungssituation nur eingeschränkte Kapazitäten mit, um digitale Unterrichtsangebote und Homeschooling erfolgreich zu nutzen bzw. umzusetzen. Die Pandemie wirke somit vor allem als Verstärker von sozialen Ungleichheiten und Entwicklungsrisiken. (
Leopoldina 2021)
Was Kommunen tun können? Erstmal zuhören
Ein zentrales Gefühl
junger Menschen während der Pandemie ist es, dass viel über sie, aber wenig und sogar noch weniger als sonst mit ihnen gesprochen wird. Dies erzeugt bei vielen Kindern und Jugendlichen ein Gefühl der Ohnmacht und des Nicht-gehört-Werdens. Zentrale Forderungen, die sich beispielsweise im Rahmen der
JUCO-Befragungen herauskristallisiert haben, sind daher: junge Menschen nicht nur zu informieren, sondern ihnen aktiv zuzuhören, ins Gespräch zu gehen, sie zu beteiligen an Entscheidungen, die ihre Lebenswelt betreffen, wie z.B. die Schule, aber auch im Großen, das heißt Politik und Gesellschaft.
Fragt man
Eltern nach ihren Unterstützungsbedarfen, so liegen diese nicht nur darin, die schulischen Anforderungen gut zu begleiten, sondern betreffen genauso die Rückkehr des Kindes aus der Isolation als grundsätzlich den Umgang mit Verhalten, Gefühlen und Stimmungen in der Familie (
COPSY I).
Aus der
Wissenschaft kommen klare Forderungen an die Politik, mit zielgruppenspezifischen Maßnahmen die am schwersten von der Pandemie betroffenen Kinder und Jugendlichen in den Fokus zu nehmen (
COPSY I). Dabei sollte die familiäre Situation in den Blick genommen werden: Unterstützungsangebote sollten nicht nur bei den Sorgen und Nöten der Kinder ansetzen, sondern auch bei den Bedarfen der Eltern.
Darüber hinaus kommt die
Leopoldina-Wissenschaftsakademie nach Auswertung der aktuellen Studienlage zu den psychosozialen Belastungen von jungen Menschen in der Pandemie zu folgenden Forderungen: Da mit einem langfristig erhöhten Versorgungsbedarf für psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zu rechnen ist, sollten Politik und Versorgungssysteme entsprechend vorbereitet sein und jetzt damit beginnen, die kinder- und jugendtherapeutischen Angebote auszubauen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich hierbei um eine Patient:innengruppe handelt, für die es bereits vor der Pandemie klare Hinweise auf eine psychotherapeutische Unterversorgung gab. Der Ausbau der Behandlungsangebote sollte zudem durch die Entwicklung eines pädagogischen Frühwarnsystems sowie den Ausbau der Schulsozialarbeit flankiert werden. Pädagogische Fachkräfte in Kitas und Lehrkräfte in Schulen sollten so fortgebildet werden, dass sie für auftretende psychische Probleme sensibilisiert sind. Dies sollte ergänzt werden durch den Ausbau der bestehenden Infrastruktur im Bereich der Schulsozialarbeit, um im Vorfeld von psychischen Erkrankungen, aber auch in Ergänzung zu psychotherapeutischen Maßnahmen reagieren zu können.
Zuletzt leiten viele Studien aus ihren Ergebnissen den Bedarf an strukturellen Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche ab, um Maßnahmen nicht nur für sie, sondern auch mit ihnen entwickeln und umzusetzen zu können (
Leopoldina 2021/
JuCo).
Auch auf Seiten der
Verbände und Interessenvertretungen gibt es eine Vielzahl von Forderungen und Ideen für die Bewältigung der psychosozialen Corona-Folgen. „Wir müssen jetzt die Kinder und Jugendlichen unterstützen, die Hilfe brauchen. Es geht nicht nur darum, Lernrückstände aufzuholen. Wir müssen es schaffen, für Viele den Weg zurück in ein unbeschwertes Aufwachsen zu ebnen. Da geht es um Bildungschancen genauso wie um eine gesunde körperliche und seelische Entwicklung“, so zum Beispiel der
Deutsche Städtetag. Gefordert wird, vorhandenen Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe quantitativ wie qualitativ zu stärken und niedrigschwellige Angebote der psychosozialen Beratung, Erziehungsberatung, Schulsozialarbeit und der Schulpsychologie zu fördern.