„Wir wollen aus den starren Rollen herauskommen, die sowohl Mädchen als auch Jungen ausbremsen“

Interview mit Nicole Lassal, Leiterin der Gleichstellungsstelle der Stadt München, zum Aktionsplan zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Landeshauptstadt
28.07.2020

München hat im letzten Jahr den Gender Award gewonnen. Das Thema Gleichstellung hat eine lange Tradition in München. Im Interview erzählt Nicole Lassal, Leiterin der Gleichstellungsstelle der Stadt München, wie es zu dem umfangreichen Aktionsplan zur Gleichstellung von Männern und Frauen in der bayrischen Hauptstadt gekommen ist, welche Maßnahmen er beinhaltet und was schon umgesetzt wurde.

Frau Lassal, können Sie uns ein bisschen erzählen, wie es zu dem Aktionsplan zur Gleichstellung von Frauen und Männern in München gekommen ist?

Alles fing an mit der Unterzeichnung der Charta zur Gleichstellung von Frauen und Männern, die der Oberbürgermeister der Stadt München 2016 auf Basis eines Stadtratsbeschlusses unterzeichnet hat. Mit dem Beschluss wurde die Gleichstellungsstelle für Frauen gleichzeitig beauftragt, einen Aktionsplan zu erarbeiten. Das haben wir dann gemeinsam mit den 13 Referaten und 6 Eigenbetrieben der Stadt München gemacht. So haben wir 67 ganz konkrete Maßnahmen entwickelt, zu denen sich die Referate verpflichtet haben, sie in den nächsten zwei Jahren (2020/2021) umzusetzen. Danach wird dem Stadtrat ein Bericht vorgelegt, was umgesetzt wurde und welche Erfolge dabei erzielt werden konnten.

Ungefähr zehn Maßnahmen fokussieren auf die Bildung und werden gemeinsam mit dem Referat für Bildung und Sport umgesetzt. Es gibt aber noch weitere, die auch im Bereich Bildung stattfinden, die aber nicht im Referat für Bildung und Sport angesiedelt sind, sondern z.B. im Stadtjugendamt.

In München gibt es 124 städtische Schulen, 451 städtische KiTas, 42 Tagesheime, 2 heilpädagogische Tagesstätten und 740 städtische Sportstätten. Daneben hat die Stadt als Aufwandsträgerin die staatlichen Schulen und die Aufsicht über die nicht-städtischen KiTas.



Wo stehen sie gerade, was die Umsetzung des Aktionsplans betrifft?

München ist eine Schulstadt und eine Stadt mit vielen Kindertageseinrichtungen. Allein das, was wir unmittelbar beeinflussen können, ist schon viel. Deswegen waren wir sehr froh, dass das Referat für Bildung und Sport sehr aktiv mitgearbeitet hat bei unserem Aktionsplan. Und wir haben ganz unterschiedliche Ebenen, die wir mit diesen Maßnahmen bedienen.

Ich fang mal an mit einem Thema, das uns als Gleichstellungsstelle schon immer sehr wichtig war in den ganzen 34 Jahren, die es uns schon gibt: Frauen in Führungspositionen an städtischen Schulen. Der Lehrberuf ist schon lange ein weiblicher Beruf. In München sehen wir eine Diskrepanz zwischen dem Gesamtanteil an weiblichen Lehrkräften im Vergleich zu den Schulleitungen. Hier haben wir sowohl mit den allgemeinen Schulen als auch mit den beruflichen Schulen zusammengearbeitet. Wir, das waren das Referat für Bildung und Sport, das Personalreferat und die Gleichstellungsstelle, haben Workshops durchgeführt mit den Schulleiterinnen, den Stellvertreterinnen und den Mitarbeiterinnen der Schulleitungen, um herauszubekommen, was die Gründe sind, dass sich so wenige Frauen für Schulleitungspositionen interessieren oder warum sie nicht in diese Positionen kommen. Da hat es interessante Diskussionen und Anregungen gegeben, die bereits evaluiert wurden und wo einige Maßnahmen anlaufen. Zum Beispiel planen wir, das das Modell der geteilten Führung zu erproben. Die Tandems werden mit einem Coaching begleitet. Außerdem sollen Vernetzungstreffen stattfinden zwischen aktiven Schulleiterinnen und Interessentinnen.

Im Rahmen der Geschlechterstereotypen haben wir im Bereich Bildung eine Maßnahme, die darauf abzielt, Mädchen für die mathematisch-naturwissenschaftlichen und technischen Wahlpflichtfächer zu interessieren und mögliche Hemmnisse abzubauen. Die Elternabende an ausgewählten städtischen Realschulen sollen genutzt werden, um über die Zusammenhänge und Chancen im Hinblick auf finanzielle Karrieremöglichkeiten, Absicherungen, Eigenständigkeit, Aufstieg, Flexibilität in technischen Berufen aufzuklären. Aus praktischer Sicht berichten eine Schülerin und Meisterin aus dem technischen Bereich über konkrete Inhalte und Chancen technischer Berufe für junge Frauen. Feedbackbögen sollen uns helfen zu erfahren, ob das eine gute Form der Elterninformation ist. Außerdem wird anschließend auf die Zahlen der Wahlpflichtfächerwahl von Mädchen geschaut, wie erfolgreich wir waren.

Ein weiteres Projekt, das darauf abzielt, Geschlechtsstereotypen bei der Berufswahl abzubauen, Es ist geplant, eine Sekundäranalyse der bestehenden Studien durchzuführen, um den aktuellen Wissensstand zum Thema Berufswahl nach Geschlecht über die Daten im Bildungsbericht der Stadt München hinaus darzustellen. Auf dieser Basis erfolgt eine Online-Befragung mit Auszubildenden mit dem Fokus: welche Entscheidungen und Einflüsse sie zu ihrer Berufswahl geführt haben. Im nächsten Jahr wollen wir dann zu Ergebnissen kommen, wie sich das Berufswahlverhalten von jungen Frauen und Männern beeinflussen lässt, nachdem man sieht, dass es nach wie vor sehr stereotyp zugeht: Frauen entscheiden sich für soziale und Gesundheitsberufe und Männer für technische Tätigkeiten.

Ein weiteres Beispiel aus diesem Bereich spielt sich in den städtischen Kindertageseinrichtungen ab: Dort sollen Materialien entwickelt werden, die geschlechtersensible Methoden vermitteln, um bei den Kleinsten andere Bilder zu kreieren als: die Krankenschwester ist weiblich und der Mechaniker ist männlich. Die beteiligten Kindertageseinrichtungen bekommen eine Einführung in das Thema, die Materialien und Begleitung bei der Umsetzung. 

Und im Bereich Sport: Die Stadt München hat ein Problem aller wachsenden Kommunen: Die Bevölkerung steigt, während das Angebot von Flächen immer kleiner wird. Hier wurde beschlossen, die Sportentwicklungsplanung zu überarbeiten, um ein Angebot zu machen, das alle Münchner Bürgerinnen und Bürger anspricht und den Platzmangel berücksichtigt. Uns war es sehr wichtig, dass diese Planung geschlechtergerecht gemacht wird. Das heißt, man schaut sich an, welches Nutzungsverhalten haben Frauen und Männer, Mädchen und Jungen und wie können wir Sportflächen gestalten, die auch für Mädchen interessant sind, also fernab gedacht von den typischen Bolzplätzen. Hier hat es schon einige Workshops gegeben vor Ort, in denen diese Fragen mit Frauen und Mädchen, mit uns als Gleichstellungsstelle und Genderbeauftragten der Bezirksausschüsse besprochen wurden.


 

Es geht viel darum, stereotype Bilder aufzubrechen, Hemmnisse junger Frauen bei der Berufswahl zu mindern. Aber wie sieht es eigentlich mit den Gehältern aus und der Lücke, die zwischen der Bezahlung von Männern und Frauen klafft?

Als Gleichstellungsbeauftragte sehen wir das natürlich im großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmen. Es ist nicht nur die Frage, Frauen in andere Berufe zu bringen. Hier ist der Fokus, dass die Berufswahl nicht durch Stereotype geleitet werden soll. Jetzt ist es immer noch so, dass Frauen, die Interesse haben, in technischen Bereichen zu arbeiten, zurückschrecken, weil sie es sich nicht zutrauen und in ihrer sozialen Umgebung wenig positive Rückmeldungen bekommen. Das alles wollen wir überwinden.

Das andere ist, wie die Berufe bezahlt werden. Das ist aus meiner und aus Sicht vieler anderer Gleichstellungsbeauftragten nicht gerecht verteilt. Das zeigt sich auch deutlich in der Corona-Krise: In den so genannten systemrelevanten Berufen arbeiten zu 75 Prozent Frauen. Und es sind diese typischen Frauenberufe, egal ob das die Erzieherin ist, ob die Krankenschwester oder die Verkäuferin, die alle schlecht bezahlt sind. Eine finanzielle Aufwertung wäre notwendig, gerade jetzt sehen wir, wie wichtig diese Tätigkeiten für unsere Gesellschaft sind. Ich denke, dann wäre das auch attraktiver für Männer. Denn das stereotype Geschlechterrollenverhalten hindert ja auch sie. Es ist heutzutage für einen Mann immer noch nicht einfach zu sagen, ich bin Erzieher oder Krankenpfleger.

Durch Corona ist das Problem, dass Frauenberufe schlecht bezahlt sind, häufig in den Medien. Wir haben aber zugleich das Problem, dass jetzt die wirtschaftliche Lage, die Situation der öffentlichen Hand schlecht ist. Insofern können wir leider nicht sehr optimistisch sein, dass solche Berufe in naher Zukunft aufgewertet werden können.




Sie haben die Pandemie bereits angesprochen: Welche weiteren Auswirkungen beobachten Sie auf die Gleichberechtigung in München? Gibt es bereits Zahlen, die die Annahmen bestätigen, dass die Gleichstellung eine Rolle rückwärts macht?

Es gibt unzählige Studien aus verschiedenen Instituten. Der Deutsche Frauenrat hat ein ganzes Dossier auf seiner Internetseite veröffentlicht zum Thema "Corona und Frauen", wo viele Studien zitiert werden.

Aus meiner Sicht erleben wir in jedem Fall eine Rolle rückwärts. Wir haben immer noch – obwohl das wirtschaftliche Leben hochfährt – die Situation, dass es keine verlässliche Kinderbetreuung gibt. Die Kindertagesstätten sind zum Teil wieder offen. Aber zumindest hier in Bayern ist es so, dass es sehr strikte Betretungsregelungen z.B. für Kinder mit Schnupfennase, gibt, dass nicht alle Betreuungsgruppen voll laufen, weil Beschäftigte zur Risikogruppe gehören und nicht kommen können. Auch in den Schulen gibt es noch keinen Vollzeitunterricht. Das trifft vor allem die Frauen, die dann versuchen, Homeoffice zu machen. Sofern das überhaupt möglich ist, wenn man bedenkt, dass vor allem Frauen soziale Berufe ausüben. Die Erzieherin, die Krankenpflegerin oder die Verkäuferin, die ich vorhin schon zitierte, haben diese Möglichkeit schlichtweg nicht. Aus der Not heraus reduzieren sie ihre Stunden, gehen in Elternzeit oder lassen sich unbezahlt freistellen. Da schlägt der Gender-Pay-Gap zurück: In der Regel haben Frauen die schlechter bezahlten Tätigkeiten, wenn sie in einer Ehe sind und stecken eher zurück. Und die Alleinerziehenden sind sowieso am absoluten Limit. Das ist in dieser Zeit deutlich geworden und wird von vielen Studien mit Zahlen belegt.




Frau Lassal, wenn Sie einen Wunsch frei hätten – welche Maßnahme würden Sie gern im Bildungsbereich sofort umsetzen?

Was uns hier vorschwebt, ist, dass das Thema der geschlechtergerechten Pädagogik, von der Kindertagesstätte über die Grundschule und Tagesheime bis hin zu den weiterführenden Schulen durchgängig aneinander anknüpft und in den städtischen Einrichtungen zum Maßstab wird. Das würden wir uns wünschen – mit dem Ziel, aus diesen starren Geschlechterrollen herauszukommen, die sowohl die Mädchen als auch die Jungen ausbremsen.

Ganz konkret wünschen wir uns schon lange, dass jedes Mädchen die Möglichkeit hat, einen Selbstbehauptungskurs zu machen – sei es im Hort oder in der Schule. Dafür brauchen wir die entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen.

Die Europäische Charta für die Gleichstellung ist vom Rat der Gemeinden und Regionen Europas erarbeitet worden und besteht aus drei Teilen. Erstens, ein Bekenntnis zum Thema Gleichstellung von Frauen und Männern als Grundrecht und die Verpflichtung, Diskriminierung und Benachteiligungen aktiv zu bekämpfen. Frauen und Männer sollen außerdem ausgewogen an Entscheidungsprozessen mitwirken, Geschlechterstereotype beseitigt und die Geschlechterperspektive in alle Aktivitäten der Kommune einbezogen werden (Gender-Mainstreaming). Zu diesem Bekenntnis verpflichten sich die Kommunen mit ihrer Unterschrift. In einem zweiten Teil wird die Kommune aufgefordert, einen Gleichstellungsaktionsplan vorzulegen. Der dritte Teil dieser Charta beinhaltet 30 Artikel zu kommunalen Handlungsfeldern, wo noch einmal konkret erklärt wird, was es bedeutet, Gleichstellung von Männern und Frauen auf kommunaler Ebene zu verwirklichen. In Artikel 13 geht es beispielsweise um das Thema Bildungswesen und lebenslanges Lernen, Artikel 6 postuliert die Beseitigung von Geschlechterstereotypen, Artikel 16 die Bereitstellung von qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung.

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