Ein Schritt vor, zwei zurück?

Passantinnen und Passanten auf Warschauer Brücke in Berlin
Fokus: Gleichstellung in Zeiten von Corona
29.07.2020

Die Corona-Pandemie wirft ein Schlaglicht auf unsere Gesellschaft, somit auch darauf, wie es um die Gleichstellung der Geschlechter bestellt ist. In unserem Fokusthema des Monats haben wir uns deshalb gefragt: Wo stehen wir in Sachen Gleichberechtigung in Deutschland? Welche Auswirkungen hat die aktuelle Pandemie? Und was erwartet uns vielleicht in Zukunft?
 

Die kritische Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und den damit einhergenden Diskriminierungserfahrungen ist seit Jahren ein viel diskutiertes Thema. Anfang dieses Jahres wurde das Buch „Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ (2020) von Caroline Criado-Perez ins Deutsche übersetzt und hält sich derzeit auf der Spiegel-Bestsellerliste für Sachbücher. Einen Beitrag zum Buch sehen Sie z.B. in der Mediathek des Ersten. Die Autorin und Aktivistin beschreibt darin detailliert, wie beispielsweise Daten für die Produktentwicklung erhoben werden, ohne Unterschiede zwischen Mann und Frau zu berücksichtigen. Zeitgleich wird in der Rezension der Süddeutschen Zeitung kritisiert, dass Criado-Perez‘ Darstellung ausschließlich auf der Trennung zwischen Mann und Frau als biologische Geschlechter basiert. In der Wissenschaft hingegen werde zwischen sex (biologisches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht) differenziert – so geht das Konzept „Doing Gender“ davon aus, dass das (soziale) Geschlecht durch Interaktionen konstruiert wird. 

Ein besonders stark umkämpftes Thema ist in diesem Zusammenhang die Verwendung geschlechtersensibler Sprache. Ob Sternchen (*), Unterstrich (_) oder neutrale Formulierungen – Kübra Gümuşay verdeutlicht in ihrem aktuellen Buch „Sprache und Sein“ (2020), wie sich Machtverhältnisse durch Sprachstrukturen offenbaren und plädyiert für eine inklusive Sprache. Lesen Sie mehr darüber in einem Beitrag des Deutschlandfunks.

Die aufgezeigten Debatten um Gender und Gleichberechtigung bekommen durch die Corona-Pandemie eine neue Dynamik: Auf der einen Seite werden systemrelevante Berufe, das heißt zumeist „weibliche“ Berufe, beklatscht und zumindest symbolisch aufgewertet. Die Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) zeigen auch, dass zwar Frauen und vor allem die Mütter die Hauptlast tragen, wenn es um die Betreuung der Kinder geht, dass Väter während der Corona-Pandemie jedoch ebenfalls mehr Zeit mit ihren Kindern verbrachten. Es gibt also eine Tendenz zu mehr Gleichberechtigung in den Familien (mehr dazu in einem Artikel von ZEIT online). Auf der anderen Seite wird ein gegenteiliges Bild gezeichnet, wie ZDF heute und der Tagesspiegel berichten: Ansteigende Zahlen häuslicher Gewalt und überfüllte Frauenhäuser; Care-Arbeit, die im familiären Umfeld weiterhin zumeist bei den Frauen liegt; Frauen, die ihre Erwerbsarbeit reduzieren und somit weniger Gehalt und später weniger Rente erhalten werden. Jutta Allmendinger, Präsidentin des WZB, betont in einem Beitrag des NDR vor diesem Hintergrund die Gefahr der „Retraditionalisierung von Geschlechterrollen“ im Zuge der Corona-Pandemie. Auch Bundesfamilienministerien Franziska Giffey mahnt bei der Vorstellung der nationalen Gleichstellungsstrategie, dass sie in dieser besonderen Situation eher Rückschritte bei der Gleichberechtigung wahrnehme (mehr dazu in einem Artikel von ZDF heute).

Kommunale Strategien für mehr Gleichberechtigung von Anfang an

Gender-Mainstreaming als Strategie zur Erhöhung der Geschlechtergerechtigkeit findet in kommunalen Verwaltungen seit Jahren Anwendung. Das zeigt z.B. die Arbeitshilfe des Deutschen Städtetags. Ein Blick in die Großstädte deutschlandweit offenbart dabei vielfältige Ansätze und die gezielte Förderung geschlechtersensibler Themen und Maßnahmen. Dabei gilt: je früher, desto besser. Insbesondere das Kita- und Schulsystem, aber auch non-formale Bildungsorte sind entscheidende Sozialisationsinstanzen, in der sich Geschlechterstereotype verankern und Einfluss auf die gesamte Bildungskarriere nehmen. Das kommunale Bildungsmanagement kann an dieser Stelle als Scharnier fungieren. Das heißt: Akteurinnen und Akteure miteinander vernetzen, Angebote aufeinander abstimmen, aktuelle Problemlagen in Bezug auf die Gender-Thematik sichtbar machen und mögliche Handlungsfelder identifizieren. Wie kann solch ein Beitrag zu mehr Geschlechtergerechtigkeit im Rahmen eines DKBM konkret aussehen? Welche Gestaltungsmöglichkeiten ergeben sich für Kommunen im Bildungsbereich? Eine Auswahl an Praxisbeispielen stellen wir hier vor.

Wie Criado-Perez in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ deutlich macht, gilt es zunächst die Datenlücke zu schließen. Im Rahmen des Monitorings können geschlechterbezogene Daten erhoben und entsprechende Ungleichheiten aufgedeckt werden. Die Städte Düsseldorf und Lübeck haben hierzu beispielsweise ein umfangreiches Berichtswesen etabliert, das die Lebenssituation von Männern und Frauen in verschiedenen Bereichen abbildet. Ein Monitoring bietet darüber hinaus die Möglichkeit, spezifische bildungsrelevante Fragestellungen in den Blick zu nehmen. Durch eine gezielte Betrachtung und Analyse von Daten können gendersensible Bildungsangebote und -maßnahmen entwickelt und nachgehalten werden.

Die Zahlen sprechen lassen

Wie eine solide Datengrundlage für die geschlechterspezifische Entwicklung von Bildungsangeboten genutzt werden kann, macht das Beispiel der Stadtbibliothek Freiburg deutlich: Im Rahmen des gender budgetings wurde im Jahr 2004 erstmals das Ausleihverhalten erhoben und in den Jahren 2008 und 2014 evaluiert. Auf der Website der Stadt Freiburg heißt es dazu: „dass Jungen ab 11 Jahren deutlich weniger Bücher ausleihen als Mädchen. Als Konsequenz hat die Stadtbibliothek für diese Zielgruppe vielfältige Bücher- und Medienangebote neu in das Sortiment aufgenommen – mit Erfolg: Lag das Geschlechterverhältnis 2004 noch bei 68 zu 32 zugunsten der Mädchen, so war 2015 fast ein Gleichstand erreicht. Aktuell sind es 51 Prozent Mädchen und 49 Prozent Jungs, die die städtischen Bibliotheken nutzen.“  Eine gezielte Auswertung der Anmeldezahlen in der Landeshauptstadt Hannover zeigte ein geschlechterspezifisches Ungleichgewicht der kommunalen Ferienangebote. Um mehr Mädchen für die Angebote zu begeistern, überarbeitete die Stadt ihre Strategie der Öffentlichkeitsarbeit und passte ihre Texte auf eine gendergerechte Sprache an.

Den Handlungsrahmen festlegen

Neben der datenbasierten Anpassung und Entwicklung spezifischer Bildungsangebote sind geschlechtersensible Handlungsrahmen und Leitlinien ein weiterer Stellhebel im Rahmen des kommunalen Bildungsmanagements. Einen Ansatzpunkt bieten beispielsweise die Kinder- und Jugendförderpläne, wie in Bielefeld oder Dortmund, durch die das Gender-Mainstreaming sowohl auf praktisch-pädagogischer als auch auf institutioneller Ebene verankert wird. Die Stadt Frankfurt am Main verabschiedete 2014 einen Orientierungsrahmen für eine genderbezogene Kinder- und Jugendarbeit. Dieser wurde in einem ressortübergreifenden Prozess entwickelt und gemeinsam durch das Jugend- und Sozialamt sowie das Stadtschulamt koordiniert.

Spielräume lassen

Auch im Bereich der Stadtentwicklung haben sich bereits einige Städte, wie beispielsweise München und Berlin, auf den Weg gemacht, geschlechtsspezifische Aspekte in ihren Handlungs- und Planungsempfehlungen zu berücksichtigen. Wie das konkret in der Praxis umgesetzt werden, zeigen verschiedene Projekte der Stadt Wien, die eine geschlechtersensible Freiraumgestaltung umsetzen und dabei großen Wert auf die gendergerechte Planung öffentlicher Gebäude wie Schulen und Kindergärten legen. Auch in der Landeshauptstadt Hannover wurde der Schulhof einer Realschule bewusst so gestaltet, „dass Mädchen und Jungen gleichen Zugang und gleiche Teilhabe an all seinen Angeboten und Erfahrungsräumen haben können“, wie es auf der Website der Stadt heißt.

Die Gestaltungsspielräume und Handlungsfelder der Kommunen im Rahmen eines gendersensiblen Bildungsmanagements sind zahlreich und werden in vielen bildungsrelevanten Bereichen bereits seit Jahren erprobt und umgesetzt. Dass diese Ansätze noch nicht überholt sind und es insbesondere ressortübergreifende Lösungen braucht, um tradierte Geschlechterrollen zu durchbrechen und Gleichberechtigung zu fördern, hat die Corona-Pandemie nochmals verdeutlicht.

Gleichstellung in Zeiten von Corona: Ein Blick nach München und Lübeck

Nicole Lassal, Leiterin der Gleichstellungsstelle München, berichtet vom Aktionsplan zur Gleichstellung in der bayrischen Landeshauptstadt, welche Maßnahmen schon laufen speziell im Bildungsbereich und wie sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf ihre Arbeit einschätzt. Zum Interview...

Auch mit Petra Schmittner, Mitarbeiterin des Frauenbüros von Lübeck, haben wir  gesprochen, um zu erfahren, wie es derzeit um die Gleichstellung in der Hansestadt bestellt ist. Zum Interview...

Hör- und Lesetipps

Eine Auswahl an Materialien zu den Themen Gender und Gleichstellung allgemein und innerhalb der Kommune haben wir hier für Sie zusammengestellt.