Vier Handlungsfelder und eine Strategie in einem gut abgestimmten DKBM

Hände ziehen an einem Seil
In Dortmund ziehen alle an einem Strang für mehr Bildungsgerechtigkeit – auch und vor allem in Zeiten der Krise
03.09.2020
Der Stadt Dortmund war sehr schnell nach den Schulschließungen im März klar, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie über die Osterferien hinaus gehen und große Auswirkungen haben würden auf die Bildungsgerechtigkeit. Denn die Voraussetzungen für das Lernen auf Distanz sind sehr unterschiedlich: Das fängt mit den Zugängen zu Endgeräten an, geht weiter bei der Lernumgebung und hört auf bei der Unterstützung, die zu Hause vorhanden ist oder nicht. 
 
Schnell und überlegt zugleich entwickelte die Verwaltung eine Strategie, wie die Stadt gemeinsam mit den Partnerinnen und Partnern der Bildungslandschaft Dortmund vorgehen kann, um Schulen sowie Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Was mit einer Bedarfserhebung anfing, führte zur intensiven Zusammenarbeit der Akteurinnen und Akteure vor Ort und ganzheitlichen Bildungsangeboten für Kinder. Dr. Anja Jungermann vom Regionalen Bildungsbüro berichtet.

Frau Dr. Jungermann, wie ist die Idee für die Strategie entstanden und wie genau sind Sie vorgegangen?  

Es gab bereits ab der ersten Woche ein koordiniertes Vorgehen in enger Abstimmung mit der Schulaufsicht und durch regelmäßige Telefonkonferenzen mit den Schulleitungen auf Einladung der Dezernentin. Zudem gab es eine ständige Koordination über die Bildungsbeigeordneten mit dem Ministerium für Schule und Bildung. Daran haben wir unsere Arbeit im Bildungsmanagement ausgerichtet. Es war relativ schnell klar, dass die Schulschließungen große Auswirkungen auf unsere Arbeit haben werden, gerade an den Übergängen – im Übergang Schule-Berufswelt oder auch von der Kita zur Grundschule. Die Maßnahmen im Übergangsmanagement konnten nicht so stattfinden wie gewohnt. Und ganz besonders haben wir uns über die Kinder Gedanken gemacht, die in sozial prekären Verhältnissen leben. Deshalb haben wir im Regionalen Bildungsbüro zunächst zügig entschieden, eine kleine Bedarfsanalyse zu machen. Wir sind auf ganz unterschiedliche Akteurinnen und Akteure zugegangen und haben gefragt: Wie ist denn die Lage? Was sind eure konkreten Bedarfe in dieser Zeit? Die Einschätzung der Schulleitungen, Schulaufsicht, Mitarbeitenden der Schulsozialarbeit, Fachreferentinnen und -referenten vom Jugendamt, von Kita-Einrichtungen, Trägervertretungen, vom Jugendberufshaus und von den Kammern haben wir alle zusammengetragen, in einen Bericht gegossen und vier Handlungsfelder identifiziert: die sozial prekäre Lage, Bildungschancen, digitale Teilhabe und Übergänge. 
 
Abgestimmt haben wir den Bericht im Fachbereich, mit der Dezernentin, der Schulaufsicht und darüber hinaus mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Jugendamt. Danach haben wir geschaut, was wir im Rahmen unserer bestehenden Projekte tun können: Wie können wir diese trotz der Umstände arbeitsfähig halten und ummodellieren? Und gleichzeitig haben wir geprüft, ob etwas neu aufgesetzt werden muss.  

Wer sind „wir“ genau? Sie haben sich mit Kollegen innerhalb des Bildungsbüros zusammengesetzt?

Wir haben erstmal innerhalb des Bildungsbüros geschaut, wo es Bedarfe gibt, haben dies dann relativ schnell an die Fachbereichsleitung herangetragen und dann geschaut, wie wir bereichsübergreifend zusammenarbeiten können. Das Thema tangiert ja alle Bereiche, insbesondere auch den Bereich Digitale Bildung, die Koordinierungsstelle Schulsozialarbeit, den Ganztag, das Übergangsmanagement und das Dienstleistungszentrum Bildung. Wir haben bereichsübergreifende Arbeitsgruppen eingerichtet und gemeinsam geschaut, wer sich wie einbringen kann.  
 

Innerhalb welches zeitlichen Rahmens kann man sich das vorstellen?  

Zunächst lag das Augenmerk des Fachbereichs Schule auf den Hygienemaßnahmen an den Schulen und wie die Wiedereröffnung organisiert werden kann. Das hat zu Beginn natürlich die größte Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Zugleich fanden bereits ab der ersten Woche die schon erwähnten Abstimmungen und Telefonkonferenzen statt. 
 
Aus dem Bildungsbüro heraus haben wir zugleich die ersten Gespräche mit einzelnen Schulleitungen aus unseren Projekten heraus, also noch ganz unabhängig von übergeordneten Strukturen, noch vor den Osterferien geführt. Anfang Mai hatten wir dann die Struktur, dass wir uns in Handlungsfeldern aufstellen wollen. Dann hat die Dezernentin den Kurzbericht dem Schulausschuss vorgestellt und informiert, wie wir uns aufstellen wollen, welche Maßnahmen wir prüfen wollen. Das wurde sehr positiv aufgenommen.  
 
Natürlich wurde gleichzeitig in der Verwaltung durchaus gefragt: Warum kümmert ihr euch jetzt darum? Warum greift ihr jetzt so vor? Hier mussten wir sehr sensibel vorgehen, um alle mitzunehmen. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass wir einen Alleingang unternehmen. Denn es ging uns um das Gegenteil: die ganze Expertise an Bord zu bringen und möglichst zielgerichtet einzusetzen. 
 

Inwieweit haben Ihnen die Dortmunder Strukturen eines datenbasierten kommunalen Bildungsmanagements für die Erarbeitung und Umsetzung der Strategie geholfen? 

Was wir immer versuchen, ist, evidenz- und datenbasiert vorzugehen. So auch hier mit unserer Bedarfsanalyse.  
 
Ganz wichtig war auch, dass es uns, das Bildungsbüro, als Einrichtung gibt. Nicht nur in dieser speziellen Corona-Situation, sondern ganz allgemein sehen wir unseren Auftrag darin, Bildungsprozesse zu koordinieren und Akteure zusammenführen. Und so konnten wir in der Krise aktiv werden.  
 
Hervorzuheben ist ebenfalls die enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Schulaufsicht. In Nordrhein-Westfalen gibt es die Regionalen Bildungsnetzwerke, aus denen heraus die Bildungsbüros entstanden sind. Die Abstimmung mit der Schulaufsicht läuft über die Lenkungskreise und einen Jour Fixe. Die Schulaufsicht und die Schulen auf unserer Seite zu wissen, war ein wichtiger Faktor.  
 
Und feste Strukturen und Abstimmungswege zahlen sich in Krisenzeiten aus: Wenn wir zum Beispiel die Mensen öffnen wollen während eines Lockdowns, um Kindern in sozial prekären Lagen den Zugang zu einer Mahlzeit zu ermöglichen, dann brauchen wir das Sozialamt an Bord, weil das über das Bildungs- und Teilhabepaket finanziert wird. Und ähnlich war es mit dem Jugendamt. Wir haben ein großes Sommerferienprogramm auf die Beine gestellt. Das konnten wir nur gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Jugendamt, die sich personell, mit Zeit und Expertise und mit ihren Kontakten zu außerschulischen Partnern in den Stadtteilen eingebracht haben. 
 
Kurz gesagt: Die vertrauensvolle ämterübergreifende Zusammenarbeit, die es schon vorher gab. Die Zusammenarbeit mit der Schulaufsicht. Und was ganz wichtig ist, der Kontakt zu den Akteurinnen und Akteuren vor Ort: sei es durch Schulnetzwerke oder Stadtteilprojekte. Dort einfach mal anrufen zu können und zu fragen, wo der Schuh drückt. Das waren die Grundpfeiler. 
 
Gab es auch etwas, was Ihnen gefehlt hat im Prozess? 
 
Der interkommunale Austausch. Zu wissen, wo andere Kommunen ähnlich unterwegs sind, das hätte man noch besser nutzen können. Da haben Sie als Transferagentur schon ganze Arbeit geleistet, uns zusammenzubringen.  
 
Dortmund ist eine riesige Stadt. Haben Sie sich bestimmte Stadtteile ausgewählt, wo es schon gute Kooperationsstrukturen gibt? Oder Stadtteile, von denen Sie wissen, da sind die meisten Bedarfe, was die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen angeht?  
 
Das deckt sich in Dortmund. Dort, wo wir die meisten Bedarfe sehen, wurden in der Vergangenheit die meisten Projekte angesiedelt. Insofern haben wir dort auch die vertrauensvollste Zusammenarbeit mit den Partnern und Schulen vor Ort. Wir merken aber auch, dass der flächendeckende Transfer auf andere Stadtteile nicht einfach ist, weil wir dort wiederum als Bildungsbüro gar nicht so bekannt sind bei den Schulen. Ein Sommerferienprogramm in einem Stadtteil oder an einer Schule zu installieren, wo man noch keine engen Kontakte hat, ist ungleich schwieriger. Das ist ein Learning:  Es braucht solche Ankerpunkte, solche Rückkopplungen zu den Praktikerinnen und Praktikern in allen Stadtteilen. Die Netzwerke vor Ort waren sehr wertvoll.  
 
Mittlerweile ist gut ein halbes Jahr vergangen. Wo stehen Sie heute? Welche Maßnahmen haben Sie aus der Bedarfsanalyse entwickelt und schon umgesetzt? Und was steht noch aus? 
 
Priorität hatte zunächst das Handlungsfeld sozial prekäre Lage. Wir haben zum Beispiel in Abstimmung mit dem Sozial-, Gesundheits- und Ordnungsamt ein Konzept erarbeitet, wie wir die Schulmensen öffnen können. Es hat zwar deutlich länger gedauert, so dass der Lockdown schon fast vorüber war. Aber wir haben es geschafft, an drei oder vier Standorten regelmäßig Lunchpakete auszugeben.  
 
Und was uns auch gespiegelt wurde: Es geht gar nicht nur um das Lernen im klassischen Sinne, sondern darum, den Tag zu füllen, weil Ideen für die Freizeitgestaltung fehlten. Also haben wir in einem Projekt ganz schnell Spiel- und Materialpakete für Kitas und Grundschulen gepackt – das Jugendamt ist in einem anderen Projekt ähnlich vorgegangen. An einzelnen Schulen haben wir mobile Spiele- und Materialausgaben aufgebaut, so dass die Kinder kommen konnten, um sich Spiele auszuleihen. Alles unter Corona-Hygieneschutzbedingungen.  
 
Die Kolleginnen und Kollegen, die für digitale Bildung zuständig sind, haben ebenfalls sehr schnell reagiert, den Schulen beispielsweise die Iserv-Plattform zur Verfügung gestellt, und kümmern sich jetzt um die zusätzlichen Fördermöglichkeiten zur digitalen Ausstattung. 
 
Im Feld Bildungschancen haben wir gemeinsam mit dem Jugendamt ein großes Sommerferienprogramm aufgesetzt. Dabei haben wir früh sichergestellt, dass die bisherigen Ferienprogramme (z.B. Fit in Deutsch, climb Lernferien und im Ganztag) trotz Corona stattfinden können und dass es eine Übersicht zu den stadtweit stattfindenden Ferienangeboten von außerschulischen Partnern und Trägern gibt. Darüber hinaus haben wir auch kurzfristig neue ganzheitliche Bildungsangebote in den Ferien an verschiedenen Schulstandorten ermöglicht. Da ist viel Engagement der Schulen und Lehrkräfte sowie der Fachkräfte und der freien Träger aus der Kinder- und Jugendförderung eingeflossen und wir haben versucht, möglichst viele Partner der Stadtgesellschaft zusammenzubringen. Wir überlegen gerade, wie wir das nochmal auf andere Füße stellen und in den Herbstferien etwas Ähnliches wiederholen können. Zumal alle, die daran beteiligt waren, es so empfunden haben, dass das unabhängig von Corona lohnenswert wäre. Wir denken an ein ganzheitliches Bildungs-Bewegungs-Kultur-Lernferienangebot. Ich glaube, da haben wir viel gelernt und müssen gucken, was wirklich realistisch ist vor dem Hintergrund knapper Haushaltskassen.  
 
Ein To Do auf der Liste ist noch, auch unterjährig Zugang zu Lern- und Arbeitsplätzen schaffen – zum Beispiel an außerschulischen Lernorten. Und natürlich wird jetzt der Prozess für die Entwicklung eines Masterplans Digitale Bildung beschleunigt und auch besonders die Ausstattung der  Schülerinnen und Schüler mit mobilen Endgeräten vorangetrieben – denn wer weiß, was die nächsten Monate bringen.  
 
Was ist für Sie der größte Erfolg? Worauf sind Sie am meisten stolz bei diesem Prozess?  
 
Wir im Bildungsbüro haben konkret am meisten das Handlungsfeld Bildungschancen mitverantwortet. Und da ist wirklich das Tolle, dass wir uns mit dem Jugendamt gemeinsam auf den Weg gemacht haben, am Thema ganzheitliche Bildung zu arbeiten. Wir hatten gestern ein Feedbackgespräch. Die Standortleitungen aus den Schulen so strahlend mit den Fachreferenten der Kinder- und Jugendförderung zusammen zu sehen und sagen zu hören: „Wir haben da gemeinsam was gerockt!“, war ein gutes Gefühl. An einem anderen Standort haben wir mit der Uni und dem Stadtsportbund kooperiert und zu wissen, wir konnten da die Kompetenzen bündeln, macht Spaß. Denn was wir uns alle wünschen im Bildungsmanagement, nämlich die Synergien zu nutzen, hat dort stattgefunden. Dafür ist es schon jetzt ein Paradebeispiel, das am Ende in aktiven Ferien und strahlenden Kinderaugen mündete. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht alle Partnerinnen und Partner an einem Strang gezogen hätten. Einige Schulen, die im Sommer noch nicht mitgemacht haben, zeigen Interesse, sich im Herbst zu beteiligen. Wer weiß, vielleicht bleibt ja etwas hängen von unserer Arbeit in diesen Zeiten – trotz klammer Haushalte. 

In einem weiteren Interview schildert Yvonne Schütz, stellvertretende Leiterin der Abteilung Stuttgarter Bildungspartnerschaft, wie die baden-württembergische Landeshauptstadt auf die Schwierigkeiten des Lernens in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete reagierte.