Eine Krise, viele Auswirkungen und individuelle Wege der Kommunen

Fahrradständer vor einer Treppe mit vielen Menschen
Wie die Pandemie alte Probleme der diversen Stadtgesellschaft in ein neues Licht rückt
03.09.2020

Als im Frühjahr absehbar wurde, wie schnell sich Covid-19 weltweit ausbreitet und auch Deutschland nicht verschonen würde, mochte so mancher noch sagen „vor Corona sind wir alle gleich“. Doch die vergangenen Wochen und Monate haben offengelegt, das Gegenteil ist der Fall: Das Virus trifft die Menschen überdurchschnittlich stark, die ohnehin schon benachteiligt sind.

Besonders in den Großstädten werden derzeit die gesellschaftlichen Bruchlinien sichtbar, die schon vorher existierten und nun in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Ist Corona also eher ein „Ungleichheitsvirus“, das nicht nur existierende Ungleichheiten und soziale Missstände offenlegt, sondern diese weiterhin verschärft? Das fragt die taz.

Die Wissenschaftler Klaus Hurrelmann und Dieter Dohmen antworten eindeutig mit Ja und gehen noch weiter. Ungleichheiten würden nicht nur verschärft. Vielmehr seien Personen in prekären Lebenssituationen oftmals von multi-dimensionalen Problemlagen belastet, die sich durch die Corona-Krise gegenseitig bedingen und/oder verschärfen (Artikel des Deutschen Schulbarometers). Kurz gesagt: Corona trifft die Menschen nicht nur unterschiedlich stark. Manche Bevölkerungsgruppen sind gleich mehrfach betroffen – dazu gehören vor allem benachteiligte Kinder und Jugendliche.

Von welchen Faktoren sprechen wir?

Bereits vor der Pandemie wuchs jedes fünfte Kind in Deutschland in einer Armutslage auf (vgl. Factsheet der Bertelsmann Stiftung). Für viele Familien ist die Armutsgefährdung mit dem Ausbruch des Corona-Virus und dem gesellschaftlichen Lockdown rasant gestiegen. Durch die wirtschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Monate steigt diese Tendenz. Wie auch die Studie der Bertelsmann Stiftung hervorhebt, verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation für viele Familien aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit und finanziellen Einbußen durch Kurzarbeit.

Hinzu kommt, dass gerade mit der Pandemie erneut deutlich wird, wie eng prekäre Lebenslagen und Gesundheit zusammenhängen. So haben Studien in Großbritannien und in den USA bestätigt, dass Armut das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs und sogar die Sterblichkeitsrate unter Covid-19 wesentlich beeinflussen. Auch wenn über den sozialen Status und Covid-19 kaum diskutiert wird, da die Verknüpfung sozialwissenschaftlicher Daten und medizinischer Fragen hierzulande wenig untersucht wird, zeige sich, dass bildungsfernere und sozial benachteiligte Menschen sowie Menschen mit Migrationsgeschichte überproportional stärker gefährdet sind, sich mit Covid-19 zu infizieren, so die Soziologin Dr. Aleksandra Lewicki in einem Interview von mediendienst-integration.de. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge betont, dass auch in Deutschland die Arbeits-, Lebens- und Wohnverhältnisse entscheidend für die Infektionsrate der einzelnen Familien sein können (vgl. Der Tagesspiegel).

Für Ferda Ataman, Vorsitzende der „Neuen deutschen Medienmacher*innen“ legen die Auswirkungen der Corona-Krise einmal mehr Zeugnis davon ab, wie tief die Strukturen institutioneller Diskriminierungen greifen. Die Menschen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, darunter viele Migrantinnen und Migranten – sei es im Lebensmittelgewerbe, in der Nahversorgung, in Pflege- und Gesundheitsberufen –, hätten am meisten unter den Entwicklungen zu leiden und seien in öffentlichen Debatten jedoch kaum sichtbar. Damit sich die Auswirkungen von strukturellen Diskriminierungen durch die aktuelle Krise nicht noch verstärken, müssen diese als solche benannt und bearbeitet werden, fordert Ataman in einem Beitrag für die Friedrich-Ebert-Stiftung.

Fokus Kinder und Jugendliche

Insbesondere Kinder und Jugendliche stellen diese Mehrfachbelastungen vor erhebliche Herausforderungen. Auch das deutsche Schulbarometer verweist erneut auf eine Tatsache, die längst bekannt ist: Trotz der Fortschritte der vergangenen Jahre, hänge der Bildungserfolg junger Menschen in Deutschland nach wie vor überdurchschnittlich hoch mit der sozialen Herkunft zusammen. Durch die aktuelle Situation drohe erneut eine Verschärfung dieser Diskrepanz. Denn gerade zu Zeiten des Lockdowns, der auch zukünftig nicht ausgeschlossen werden kann, hat sich gezeigt, mit welchen Herausforderungen Kinder und Jugendliche beim Lernen auf unterschiedlichen Ebenen konfrontiert sind. Die Digitalisierung der Bildungslandschaft hat zwar durch die Ausbreitung des Virus weiteren Schwung bekommen. Wie Prof. Dr. Mafaalani in einem Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung erklärt, liegt hier sogar die Chance, dass digitale Lernformen gezielt Bildungsbenachteiligungen auf einzelnen Ebenen engegenwirken können.

Trotzdem hat das vergangene halbe Jahr gezeigt, dass die technischen Voraussetzungen in vielen Haushalten fehlen, um digitales Lernen überhaupt zu ermöglichen. Zudem hat der Lockdown einmal mehr sichtbar gemacht, wie wenig Rückzugsmöglichkeiten viele Kinder und Jugendliche haben, die z.T. auf engstem Wohnraum leben. Für Kinder in Gemeinschaftsunterkünften, in denen Gemeinschaftsräume multifunktional genutzt werden, ist es beispielsweise fast unmöglich, eine gute Lernatmosphäre zu schaffen. Doch auch wenn diese Rahmenbedingungen gegeben sind, gibt es Herausforderungen, die das Homeschooling mit sich bringt. Dabei geht es nicht nur darum, sich mit digitalem Lernen vertraut zu machen, sondern zunächst grundlegende Fähigkeiten für das Selbststudium zu Hause zu entwickeln (Lernen zu Lernen, Zeitmanagement oder sich selbst zum Lernen zu motivieren). Hierfür Unterstützung von Eltern und anderen Familienmitgliedern zu erhalten, setzten neben sprachlichen Fähigkeiten vor allem zeitliche Ressourcen und die Möglichkeit voraus, zu Hause zu arbeiten.

All diese Herausforderungen sind keineswegs neu. Viele von Ihnen arbeiten seit Jahren daran, die Lebensumstände für die Familien in Großstädten zu verbessern. Die Pandemie legte jedoch ein Brennglas auf die Situation vor Ort. Natürlich ist aber auch hier Vorsicht geboten, nicht selbst in die Stigmatisierungfalle zu treten durch Verallgemeinerungen und Verknüpfungen, sondern die jeweils ganz konkreten und individuellen Bedarfe im Blick zu behalten. Und doch zeigen die Mehrfachbelastungen in vielen Familien auf, dass es mehr denn je notwendig ist, genau hier besonders zu fördern und zu unterstützen.

Kommunen reagieren schnell, kreativ und mit Strategie

In TRANSFERAGENTUR AKTUELL bringen wir immer wieder Beispiele ein, die zeigen, wie Sie in Ihren Kommunen genau dies tun: trotz oder gerade in Zeiten der Pandemie integrative Lösungsansätze auf den Weg zu bringen und Kooperationsstrukturen zu nutzen, um Familien in besonderen Lebenslagen bestmöglich zur Seite zu stehen. Auch für diesen Newsletter haben wir zum Hörer gegriffen, um zu erfahren, welche Strategien und Projekte Sie aktuell vor Ort verfolgen.

Yvonne Schütz, stellvertretende Leiterin der Abteilung Stuttgarter Bildungspartnerschaft, schildert im Interview, wie die baden-württembergische Landeshauptstadt auf die Schwierigkeiten des Homeschoolings in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete reagierte: mit einem breit abgestimmten Projekt zur Einrichtung voll ausgestatteter Lernräume.

In einem zweiten Interview stellt Dr. Anja Jungermann, Mitarbeiterin des regionalen Bildungsbüros Dortmund, vor, wie das Team ausgehend von einer Bedarfserhebung in kürzester Zeit eine Bildungsstrategie entworfen hat, deren Maßnahmen vielen Kindern und Jugendlichen zu Gute kamen.