
Spätestens seit sich die Folgen der Corona-Pandemie auf die Bildungsgerechtigkeit von Kindern und Jugendlichen abzeichnen, können wir auch zunehmend die Auswirkungen auf kommunale Bildungslandschaften beobachten: nämlich den drohenden Verlust eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses vor Ort und einer damit verbundenen Regression kommunaler Bildungslandschaften, die außerschulische Bildungsorte aus dem Blick verliert.
Die letzten zwölf Monate haben gezeigt, wie fragil die Errungenschaften der vergangenen Jahre beim Aufbau von ganzheitlich ausgerichteten Bildungslandschaften sind. Der politische und öffentliche Fokus reduziert sich im Zuge der Pandemie auf den Bildungsort Schule. Eine Debatte, ob, wann und wie außerschulische Bildungsorte für Kinder und Jugendliche wieder öffnen können und welchen Stellenwert sie haben, findet kaum statt. Dabei ist ein ganzheitliches Bildungsverständnis ein zentraler Meilenstein in der Diskussion um kommunale Bildungslandschaften. Die Institution der Schule macht nur einen wichtigen Baustein von Bildungslandschaften aus. Kinder- und Jugendhilfe, kulturelle Einrichtungen, Verbände und Vereine, Institutionen der Gesundheitsförderung, aber auch private und gewerbliche Akteur:innen vor Ort sind ebenso tragende Säulen. Und ihr Wegfall hat besonders Auswirkungen auf benachteiligte Kinder und Jugendliche.
Nicht alle sind gleich betroffen
Auf den erst Blick wirkt es so, als träfe die Pandemie alle Kinder und Jugendlichen gleich. Von den Schließungen von Schule, Freizeitmöglichkeiten und außerschulischen Bildungsorten sind erstmal alle jungen Menschen gleichermaßen stark betroffen. Allerdings sind es vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien, die seitdem kaum noch erreicht werden und die von individuellen und strukturellen Unterstützungssystemen gänzlich abgeschnitten sind. Auch beim Homeschooling sind Kinder aus armen Verhältnissen benachteiligt, weil sie seltener über die notwendige technische Ausstattung verfügen und häufig keine Rückzugsräume, wie ein eigenes Kinderzimmer, zum ungestörten Lernen haben, wie die Bertelsmann Studie „Kinderarmut: Eine unbearbeitete Großbaustelle“ zeigt. Für Bildungsforscher Heinz Bude ist die Schule ein eigenes System sozialer Ungleichheit und ein besonders wichtiger Sozialisationsort. Gerade für benachteiligte Kinder und Jugendliche seien „Erfahrungen der Anerkennung in der Schule [...] von extremer Bedeutung für den Lebenserfolg“, erklärt er im Interview mit ZEITmagazin ONLINE. Gerade für diese Kinder sind außerschulische Anreize von Anbietern kultureller, politischer oder sonstiger non-formaler Bildung also besonders wichtig für die Entwicklung von Kompetenzen, das Erfahren von Selbstwirksamkeit und persönliche Anerkennung.
Erreichte Fortschritte drohen verloren zu gehen
Die sich abzeichnende Marginalisierung außerschulischer Lernorte infolge finanzieller Engpässe und die sich langsam auszehrende Anbieter:innenlandschaft sind erste Belege dafür, dass nicht-schulische Bildungsorte nicht nur massiv unter Existenzdruck geraten. Vielmehr ist zu erwarten, dass Bildungslandschaften noch mehr als jetzt bereits dazu dienen „im Dienst der Schule“ zu stehen (Studie „Zukunft der schulischen Bildung 2050“ des FIELDS Institute mit Unterstützung der Stiftung Mercator). Auch wenn die Studie „Bildungslandschaften" der BKJ aus dem Jahr 2019 darauf hinweist, dass der Bereich der außerschulischen Bildung (z.B. der Kulturellen Bildung) zu zentralen Themenschwerpunkten von Bildungslandschaften gehört, bleibt zu befürchten, dass sich die Aufmerksamkeit mittlerweile einseitig zu schulischen Themen hin, wie Unterrichtsausfälle, Distanzlernen, digitale Ausstattung, verschoben hat. Für Susanne Keuchel, Vorsitzende der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) wurde „Zeit […] verschenkt, um Modelle zu entwickeln, die über Beschulung in kalten Klassenzimmern hinausgehen und die Bildungslandschaft als Ganzes in den Blick nehmen“. So droht der Aufbau und Erhalt von Strukturen, die benachteiligte Kinder und Jugendliche außerhalb der Schule erreichen und ihnen Zugänge zu Kultureinrichtungen und anderen Bildungsorten ermöglichen, wegzubrechen.
Auch Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth sieht in einem Gastbeitrag für Das Deutsche Schulportal in der Corona-Pandemie die Gefahr, „zentrale Errungenschaften kommunaler Bildungslandschaften außer Kraft zu setzen“. Die einseitige Diskussion um das alles beherrschende Schulthema der Digitalisierung erzeuge die „Illusion“, dass sich der Rückschritt kommunaler Bildungslandschaften „durch digitale Technik kompensieren ließe“. Und auch der Zukunfts- und Bildungsforscher Gerhard de Haan ist „verhalten optimistisch“, was die Zukunft von Bildungslandschaften angeht. Er stellt fest, dass Bildungslandschaften bereits vor der Corona-Krise durch eine einseitige Ausrichtung auf Schulen geprägt gewesen seien. Einseitig „von der Schule her zu denken, sie zu versuchen zu stabilisieren und zu optimieren, wird in Zukunft kaum noch haltbar sein“, so de Haan im Interview mit dem BKJ – Verband für Kulturelle Bildung.
Grundsätzlich zielen kommunale Bildungslandschaften auf die Gestaltung eines weiten Bildungsverständnisses ab, das durch die Zusammenarbeit verschiedener Bildungsakteur:innen vor Ort mit Leben gefüllt werden soll. Die bestehenden institutionellen Trennungen im kommunalen Bildungsbereich zwischen Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft sowie zwischen Schule, Jugendarbeit, Kultur, Sport sollen durch Beteiligung und Vernetzung überwunden werden. In diesem Zusammenhang weist Anika Duveneck in ihrem Buch „Bildungslandschaften verstehen. Zum Einfluss von Wettbewerbsbedingungen auf die Praxis“ darauf hin, dass für den Aufbau von Bildungslandschaften nicht das Motiv wirtschaftlicher und verwaltungsorganisatorischer Vorteile ausschlaggebend seien, sondern die Verbesserung der Situation junger Menschen. Vor allem um die prekäre Situation benachteiligter Kinder und Jugendliche abzufedern, hätte die Chance kommunaler Bildungslandschaften gerade jetzt in der Stärkung außerschulischer Bildungsorte liegen können.
Kommune handelt
Die Corona-Pandemie hat deutschlandweit Kommunen gefordert, schnell und flexibel Lösungen für die Unterstützung von benachteiligten Kindern, Jugendlichen und Familien zu entwickeln. Dabei darf die Adaptions- und Resilienzfähigkeit von Bildungslandschaften nicht unterschätzt werden. In den vergangenen Jahren sind Bildungslandschaften wiederholt mit Herausforderungen konfrontiert worden, die ihre Robustheit auf den Prüfstand stellt(e), auch wenn wir in vielen Bereichen noch am Anfang stehen: die gesetzlichen Vorgaben zur Inklusion, die Neuzuwanderung (ab 2015) und die damit verbundene Aufgabe der Inklusion von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in das deutsche Bildungssystem und aktuell die Corona-Krise, die die Schwächen des deutschen Bildungssystems nochmal deutlich aufzeigt, denn sie betrifft bundesweit jede Schule, jede Schulart und auch alle außerschulischen Bildungsorte. (Beitrag von Hans Anand Pant für Das Deutsche Schulportal)
Dort, wo vor der Corona-Pandemie eine gute Zusammenarbeit zwischen den Bildungspartnern stattfand, wurde vielerorts schnell und flexibel gehandelt. In unserer Rubrik „Kommune handelt“ haben wir eine Menge guter Beispiele zusammengetragen, die zeigen, wie Kommunen kreative und innovative Ideen, Projekte und Strategien auch in schwierigen Zeiten umsetzen und inwieweit das datenbasierte kommunale Bildungsmanangement (DKBM) mit gut etablierten Kommunikationswegen innerhalb der Verwaltung und in der Bildungslandschaft eine gute Basis für flexible Lösungen und schnellen Wissenstransfer schafft.
Corona und Bildungslandschaften – nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen
Was wir als Transferagentur aus Gesprächen mit den von uns begleiteten Großstädten ebenfalls beobachten können, ist, dass sich der seit gut einem Jahr andauernde Notfallmodus vielerorts auf die Arbeitsweisen, Beteiligungsformen und Netzwerke im Bildungsbereich auswirkt. Gerade zu Beginn der Pandemie und insbesondere im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 gab es starke Einschnitte: Vielerorts sind Prozesse ins Stocken geraten, Mitarbeitende aus Bildungsbüros mussten das Gesundheitsamt unterstützen, Themen wurden zu Lasten außerschulischer Bildungsthemen umpriorisiert, Strukturen und Arbeitsweisen haben nicht mehr funktioniert.
Dort, wo die Bildungsakteurinnen und -akteure von der Begegnung und dem Austausch leben, hat die Verschiebung in die digitale Welt die Arbeit aufgrund einer ausbaufähigen digitalen Infrastruktur erschwert. Gleichzeitig ist die Bedeutung von Netzwerken besonders deutlich geworden. Netzwerke, die auf eine lange und vertrauensvolle Erfahrung zurückblicken, haben die vergangenen zwölf Monate mit einem „blauen Auge“ überstanden. Vielerorts wurden allerdings Kooperationen eingestellt, Gremienstrukturen sind eingeschlafen und konnten aufgrund bestehender Beschränkungen bisher nur geringfügig wiederbelebt werden. Ämter und Fachbereiche haben sich auf ihre originären Zuständigkeiten zurückgezogen, ihre Kooperationen unterbrochen und der alles beherrschende Fokus ist vielerorts auf schulbezogene Themen wie das digitale Lernen gerichtet.
Der Erfolg kommunaler Bildungslandschaften wird sich zuletzt daran messen lassen müssen, wie es ihren Protagon:istinnen gelingt, die Förderung des Dialogs zwischen den zahlreichen Institutionen zu unterstützen. Aber auch die Funktionalität ihrer Netzwerke (z.B. verwaltungsintern und -extern, Gremien- und Kooperationsstrukturen) in Krisenzeiten und darüber hinaus sicher zu stellen.
Die Corona-Krise als Anlass für gemeinsame Lernprozesse verstehen
Unsere Beobachtungen haben aber auch gezeigt, dass die Kommunen, die bereits über gute Strukturen des DKBM verfügen, die zurückliegenden Erfahrungen als Ausgangspunkt nutzen, um gemeinsame Lernprozesse anzustoßen (siehe auch das Positionspapier der Weinheimer Initiative). Gerade im Bereich von Wissensarbeit und gemeinsamen Lernprozessen hat die Bildungslandschaftsforschung die stärksten Effekte für die positive Wirkung und Entwicklung von Bildungslandschaften herauslesen können. Dieses am gemeinsamen Lernen orientierte kommunale Bildungsmanagement beschreibt der Bildungsforscher Sebastian Niedlich in seinem Buch „Neue Ordnung der Bildung. Zur Steuerungslogik der Regionalisierung im deutschen Bildungssystem“ (2020, S. 401ff.) als „reflexives Bildungsmanagement“. „Kennzeichnend ist eine intensive Beziehungsarbeit und Kommunikation – auch und gerade auf informellem Wege – unter den Beteiligten, wobei die Verantwortlichen und Mitarbeiter/innen des DKBM einen wichtigen Knotenpunkt bilden“. (Ebd., S. 402)
In Dortmund hat beispielsweis das Bildungsbüro gemeinsam mit den Partnerinnen und Partnern der Bildungslandschaft Dortmund ein koordiniertes Vorgehen entworfen, um Schulen sowie Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Was mit einer Bedarfserhebung anfing, führte zur intensiven Zusammenarbeit der Akteurinnen und Akteure vor Ort und ganzheitlichen Bildungsangeboten für Kinder.
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In den Dialog gegangen sind auch die Mitarbeitenden der Abteilung Stuttgarter Bildungspartnerschaft. In der groß angelegten Studie „Corona und Bildung“ wurden nicht nur Familien und Lehrkräfte, sondern auch Sozialarbeiterinnen und -arbeiter befragt nach positiven wie negativen Erfahrungen aus der Krisenzeit.
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